Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Kratzen von Messern und Gabeln.
Der Mann, der neben ihr saß – sie konnte sich seinen Namen nicht merken –, spuckte in sein geblümtes Taschentuch, betrachtete den Inhalt, verzog den Mund und ließ das Taschentuch verschwinden. Es klang, als schlürfe er die Luft, ein Ertrinkender. Marianne Gautschi betrat den Esssaal wie üblich als Letzte. Sie hatte beide Arme vor der Brust angewinkelt und lächelte verkrampft.
»Ich begrüße Sie ganz, ganz herzlich in Beinwil am See«, sagte sie und deutete eine Verbeugung an, »die Lokalzeit beträgt acht Uhr dreißig. Wir hoffen, dass Ihnen dieser Flug mit der Swissair gefallen hat und bedanken uns dafür, dass Sie mit uns geflogen sind.«
»Swiss«, sagte Humbel, »die Swissair gibt es nicht mehr!«
»Sie soll den Mund halten«, sagte die kleine Frau, die jeden Tag ein rosa Wolljäckchen trug.
»Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt in der Schweiz oder eine gute Weiterreise«, fuhr Frau Gautschi fort und setzte sich.
»Genau«, sagte der Mann, der aufrecht neben Roberta saß und voller Misstrauen das Ei betrachtete, das vor ihm in einem Eierbecher stand, »sie soll den Mund halten!«
»Der Penis der Gans wird bis zu zehn Zentimeter lang«, sagte Humbel und blickte sich streng um, »wenn er erigiert ist.«
»Ganter«, sagte der Mann, der das Ei mittlerweile geköpfthatte und einen Löffel in der Hand hielt, »die männliche Gans heißt Ganter.«
»Nach der Kopulation«, sagte Humbel ungerührt, »muss die männliche Gans fliehen, weil das Weibchen den Penis nämlich attackiert, falls er noch nicht rückverlagert ist.«
»Anserinae«, sagte der Mann und stieß den Löffel in das Ei, »das ist lateinisch und heißt Gans.«
Der Mann fing hastig an, das Ei zu löffeln, als sei es eine unangenehme Aufgabe, die möglichst schnell erledigt werden musste.
»Rückverlagert«, zwitscherte die Frau im rosa Wolljäckchen. Sie sah sich um, ihr Blick bekam etwas Hilfloses, als suche sie, von einer Sekunde zur nächsten, nach Halt. Das Messer glitt ihr aus der Hand und klirrte zu Boden. »Seit gestern bin ich auch gegen Geranien allergisch«, sagte sie und zupfte an ihrem Jäckchen.
»Radieschen«, sagte der Mann und schob den Eierbecher von sich, »ich bin allergisch gegen Radieschen. Und ich hatte zwei Darmverschlüsse. Ich war sogar schon mal tot! Fast zwei Minuten lang. Tot!«
»Weinbergschnecken sind Zwitter«, sagte Humbel und klopfte auf den Tisch, »bei der Paarung stoßen sie sich gegenseitig Kalkpfeile in den Körper.«
»Klinisch tot!«
»Um sich zu reizen. Kalkpfeile!«
Roberta stand auf, murmelte eine Entschuldigung und ging aus dem Esssaal, ohne sich um die Blicke und das Getuschel der anderen zu kümmern. Der Korridor war leer, die Gummisohlen ihrer Schuhe quietschten. Der Pfleger, der ihr an ihrem ersten Tag im Altenheim eine Tüte Bonbonszugesteckt hatte, um sie zu beruhigen, saß am Bürotisch im Bereitschaftszimmer und sah sie lächelnd an, als sie an ihm vorbeiging.
»Na, Frau Kienesberger, schon wieder alleine auf Tour?«
Der Pfleger hatte ein Bonbon im Mund; es klackte, als er es im Mund verschob. In der Brusttasche seines weißen Kittels steckte ein Spiel Karten, eine ragte oben heraus. Hinter dem Bürotisch stand eine Liege, daneben ein Regal mit Tassen. Roberta nickte und ging weiter. Neben dem Seiteneingang, den auch die Lieferanten benutzten, stand ein Rollwagen mit halbvollen Urinflaschen. Sie öffnete die Tür und blieb am Rand des Parkplatzes stehen. In der Hecke, die den Platz zur Straße hin abgrenzte, saßen Spatzen, die hochstoben, weil Roberta die Hand hob. Einer der Vögel hatte ein Stück Cellophan im Schnabel. Sonne brach durch die Wolken, Autodächer blitzten. Der See war für einen Moment eine Scherbe, die zwischen den Hügeln lag, gefroren zu einem Sinnbild der Morgenstille. Jetzt bin ich hier. Aber wo gehe ich hin? Wenn man keinen Ort mehr hat auf der Welt, ist es gleichgültig, wo man sich befindet! Wo hatte sie das gelesen? Bestimmt in einem der Bücher, die sie auf der Suche nach den bleistiftgeschriebenen Wörtern durchforstet hatte, sie las sonst doch nicht. Mit einem Mal wusste sie, dass sie sich heute Nacht auf den Weg machen würde. Es ist ganz und gar nicht gleichgültig, wo man sich befindet, auch wenn man keinen Ort mehr hat auf der Welt. Ich verblasse, ich löse mich auf, hatte Roberta gedacht, als sie vor einigen Tagen zufällig ihr Spiegelbild erblickt hatte. Worauf wartest du denn noch? fragte sie sich.
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