Walden - Leben in den Wäldern: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
hat, wird keiner "azad" oder frei genannt, außer der Zypresse, die keine Früchte trägt. Welch Geheimnis liegt hier verborgen? Er antwortete: Jeder Baum hat seinen angemessenen Ertrag, und jeder Baum hat seine Zeit, während der er frisch und blühend ist. Hernach vertrocknet und verwelkt er. Solch Schicksal kennt die Zypresse nicht. Sie grünt immerfort. Und von dieser Art sind die Azads, die religiös Unabhängigen. Hänge nicht Dein Herz an vergängliche Güter, denn der Dijlah oder Tigris wird noch durch Bagdad fließen, nachdem der Stamm der Kalifen erlosch. Hat Deine Hand die Fülle, sei freigebig wie der Dattelbaum. Doch wenn Du nichts zum Verschenken hast, sei ein Azad, ein Mann, der frei ist wie die Zypresse."
Ergänzende Verse
Die Ansprüche der Armut
"Zu kühn ist Dein Begehren, armer, dürftiger Wicht
Wenn Du am Himmel einen Platz Dir wünschst!
Denn voll Pedanterie und Trägheit ist die Tugend,
Die Du in Deiner niedern Hütte oder Deiner Tonne
Wohlfeil Dir züchtest in der Sonne, beim schatt'gen Quell
Bei Wurzelkost und dürftigen Topfgewächsen.
Mit Deiner rechten Hand reißt Du aus Deiner Brust
All jene menschlichen Begierden, aus deren Schoß
Der Tugend schönste Blüten sprossen.
So wird Natur von Dir geknechtet, so werden die Instinkte unterdrückt!
Wie der Meduse Haupt, verwandelst Du den Tätigen in Stein.
Wir brauchen die Gesellschaft jener blöden Menschen nicht,
Die in Enthaltsamkeit – gezwungen – leben!
Wir haben kein Verlangen nach dem widersinnig stumpfen Leben,
Das weder Schmerz noch Freude kennt; auch nicht nach
Jenem Duldermut, den Ihr, verblendet, höher wertet
Als den Mut der Kraft: Solch niedre und verworfne Brut,
In schaler Mittelmäßigkeit zu Haus,
Paßt, wahrlich, gut zu Eurem Knechtesinn.
Wir aber preisen nur die Tugenden, die überströmen,
Die kühnen und die milden Taten, auch königliche Herrlichkeit,
Allweise Klugheit, grenzenlose Großmut
Und jene Heldentugend, für die das Altertum
Zwar keinen Namen, doch manch Beispiel hinterließ:
Theseus – Achilleus – Herakles!
Zurück in Deine ekelhafte Zelle!
Willst Du die Welt im Strahlenglanze sehn,
Versuche diese Besten zu verstehn."
T. Carew
Wo ich lebte und wofür ich lebte
In einem gewissen Lebensalter haben wir die Gewohnheit, jedes Fleckchen Erde für einen eventuellen Hausbau in Betracht zu ziehen. So habe ich das Land nach allen Richtungen im Umkreis von zwölf Meilen angeschaut. In meiner Phantasie kaufte ich alle Farmen der Reihe nach auf, denn alle waren zu verkaufen, und ich kannte den verlangten Preis. Ich ging mit jedem Farmer durch Haus und Hof, kostete von seinen wilden Äpfeln, sprach mit ihm über Landwirtschaft, kaufte die Farm für den geforderten Preis, für jeden Preis und fertigte im Geiste die Hypothek aus. Ich selbst setzte dann einen höheren Preis der Farm fest, nahm alles, nur keinen Vertrag – ließ mir anstatt des Vertrages sein Wort geben (denn ich liebe es sehr zu plaudern) und kultivierte, wie ich glaube, nicht nur den Besitz, sondern auch den Besitzer in gewissem Grade. Hatte ich mich lange genug so vergnügt, dann zog ich mich zurück und überließ ihm die Fortsetzung.
Meine Kenntnisse verleiteten meine Freunde dazu, in mir gleichsam einen Makler in Grundbesitz zu sehen. Wo auch immer ich saß, da hätte ich auch leben mögen, und die Landschaft dehnte sich dementsprechend radienförmig um mich aus. Was ist ein Haus anderes als ein sedes – ein Sitz? Ist es ein Landsitz – nun, um so besser! Ich entdeckte manchen Platz, auf dem wohl so bald kein Haus gebaut werden würde, denn mancher würde zu sich sagen: Der Platz liegt zu weit vom Dorfe ab; meiner Ansicht nach war das Dorf zu weit von dem Platze entfernt. "Gut; hier möchtest Du leben", sprach ich zu mir, und so lebte ich dort eine Stunde lang ein Sommer- und ein Winterleben, sah im Geiste wie die Jahre eilten, wie ich mich durch den Winter schlug und wie der Frühling ins Land zog. Die zukünftigenBewohner dieser Gegend können sicher sein, daß ihnen, wohin sie auch immer ihre Häuser stellen mögen, stets einer zuvorgekommen ist. Ein Nachmittag genügte, um das Land in Obstgarten, Waldung und Weiden abzuteilen, um zu entscheiden, welche schönen Eichen oder Fichten geschont werden und vor dem Hause stehen bleiben sollten, und von wo aus irgend ein verwitterter Baum am interessantesten zu betrachten war. Dann ließ ich alles liegen – geradezu brach liegen. Denn ein Mensch ist um so
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