Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Waldos Lied (German Edition)

Waldos Lied (German Edition)

Titel: Waldos Lied (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Gabriel
Vom Netzwerk:
von schrecklichen menschlichen Irrtümern und Fehlern, aber auch von Großmut und Freundschaft. Ich schrieb sie, um jenen Tausenden von Männern, Bauern und Fürsten, ein Denkmal zu setzen, die in diesem Feldzug eines Herrschers ihr Leben ließen. Es dauerte drei Jahre, bis der letzte Strich getan, der letzte Buchstabe geschrieben war. Der Krieg dauerte länger.
    Meine Hände schmerzen, die Gicht hat meine Finger zu knotigen Klauen verkrümmt. Die Feder verweigert mir den Dienst. Sie ist alt und schon wieder stumpf geschrieben. So, wie ich im Lauf der Jahre grau geworden bin. Und dennoch, es bleibt noch so vieles zu tun. So schnitze ich mit meinen geschwollenen Fingern einen neuen Federkiel. Meine Tinte ist so rußig und dunkel wie der Leibhaftige selbst, der manches Mal seine Possen mit mir getrieben hat.
    Es ist einfach für mich, die Geschehnisse meiner Jugendjahre heraufzubeschwören. Ich erinnere mich daran um vieles leichter als an anderes, das sich später zutrug und das mir im Nebel der wirbelnden Gedanken immer wieder entgleitet. Diese Jahre sehe ich so deutlich vor mir wie einen Kieselstein auf dem Grund des klaren Wassers eines Baches. Als alles begann, war ich nichts als ein unbedarfter Knabe, den der wirbelnde Strudel des Schicksals erfasste. Wie oft hat er mich ausgespien, um mich wieder ins Nirgendwo zu schleudern! Wie viele Narben trug ich davon!
    Es bleibt mir nur noch wenig Zeit, bis mein Schöpfer mich ruft. Die Feder, meine alte Freundin, soll mir helfen zu verstehen, welche Rolle mir in diesem Spiel zugedacht war, das man Leben nennt. Und warum sich mein Geschick so eng mit dem Schicksal zweier mächtiger Männer verknüpfte, die einst Freunde waren und dann Todfeinde wurden. Warum es gerade mir, einem einfachen Mönch, beschieden war, immer wieder in den Lauf des Schicksals eines großen Reiches und eines grausamen Kampfes einzugreifen. Und wenn ich dereinst vor dem Jüngsten Gericht Rechenschaft ablegen muss für meine Worte, Taten und Gedanken, dann will ich bereit sein. Es kann wohl sein, dass mich der oberste Richter für zu leicht befindet. Doch manchmal, wenn meine Glieder nicht allzu sehr schmerzen und es meinem Herzen deshalb leichter fällt, wieder auf Seine Gegenwart und Gnade zu bauen, dann denke ich, dass der Allmächtige mich und mein Handeln, all die Sünden und Torheiten, die ich beging, vielleicht doch verstehen wird. Denn meine Geschichte ist auch die Geschichte einer Liebe.
     
    Ich weiß noch genau, wie kalt es am Ende des Jahres 1063 war. Niemand konnte mir genau sagen, wie viele Lenze ich damals zählte. Meine Erinnerung beginnt erst deutlicher zu werden mit meiner Ankunft in der Abtei St. Blasien, etwa acht Jahre zuvor. Von der Zeit zwischen meiner Geburt bis zu meiner Ankunft in St. Blasien blieben mir nur dunkle Schemen, Bilder von bedrohlichen Schatten an einer Lehmwand, die ich immer wieder in jenen Alpträumen sah, aus denen ich schreiend erwachte. Ich muss damals etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein. Der klirrende Frost hatte das Land noch bis in den April hinein in seinem harten Griff gehabt. Das Jahr hatte so eisig begonnen, dass die Vögel in der Luft und das Vieh in den Ställen erfroren. Nun war der Boden nach einem kurzen, kraftlosen Sommer und einem verregneten Herbst wieder zu Eis erstarrt.
    Doch ich nahm die schneidende Kälte unter meinen Fußsohlen kaum wahr. Ich hatte einen unbeobachteten Moment genutzt, um mich davonzuschleichen, und war nun, geborgen in der Gegenwart Gottes, in den tröstlichen Anblick des Chorraumes der Basilika St. Blasien versunken. Ich liebte das dreischiffige, steinerne Haus des Allmächtigen mit seinen Säulen, die sich kühn und frei gen Himmel reckten, um dann unter dem flachen Dach des Gotteshauses doch ihre Begrenzung zu finden. Sie sind wie wir Menschen. Unser Geist will hoch hinaus und ist doch durch unseren Körper in der Endlichkeit dieser Welt gefangen.
    Besonders aber liebte ich das Halbrund der drei Apsiden am Chorraum. In meinem kindlichen Glauben erschienen sie mir wie die zu Stein gewordene Liebe des Allmächtigen. Links und rechts wachten die Heiligen Blasius und Stephanus über das Gotteshaus. Neben mir knieten an diesem eisigen Dezembertag zwei Mönche, die tief ins Gebet versunken waren. Aus der größten, der mittleren Apsis schaute der Erlöser mitleidsvoll von seinem Kreuz auf mich kleinen Menschenwurm herab.
    Ich kann die Maulschelle noch immer spüren, die laut durch den Kirchenraum schallte. Bis

Weitere Kostenlose Bücher