Walküre
den Verhafteten nicht zum ersten Mal vor sich zu haben. Irgendwo anders war ihm dessen ehrbares Äußeres bereits deplatziert vorgekommen. Seine Augen begegneten denen Fabels für den Bruchteil einer Sekunde, bevor der Schutzpolizist seinen Kopf in die Türöffnung schob.
»Jemand, den du kennst?«, fragte Anna.
»Nein«, sagte Fabel. »Ich bin ihm schon früher begegnet, das ist alles. Zweimal.«
Am Tatort befanden sich zwei uniformierte Beamte: Ein älterer Obermeister stand am Fuß des Bettes, während sein junger Kollege auf dem Korridor mit einer Putzfrau sprach. Holger Brauner, der Chef des Spurensicherungsteams, arbeitete zusammen mit einem Helfer. Beide trugen blaue Overalls und Latexhandschuhe.
Fabel kannte den älteren Schutzpolizisten: einen Mann namens Hanusch mit fünfundzwanzig Jahren Dienstzeit. Es war üblich, einen weniger erfahrenen Beamten mit einem dienstälteren zusammenzutun, um ihm den Umgang mit der Welt der Gewalt und des Todes zu erleichtern, die sich nicht von der Alltagsarbeit trennen ließ. Überraschend war, dass das Gesicht des älteren Polizisten seine Farbe verloren hatte. Die Augen, die im Lauf der Jahre so viel gesehen hatten, wirkten melancholisch. Dagegen schien der jüngere Beamte auf dem Flur von Adrenalin aufgeputscht zu sein und wie unter Strom zu stehen.
Fabel folgte dem Blick des älteren Polizisten. Ein hübsches Mädchen von ungefähr zwanzig Jahren lag auf dem Bett. Ihre Augen, blutunterlaufen und glasig, starrten den Uniformierten an. Ihre Lippen waren bläulich, ihre Zunge ausgestreckt und ihr Mund ein wenig geöffnet. Die geplatzten Kapillargefäße an ihrem Hals hatten ein zartes blaues Adergeflecht entstehen lassen. Fabel betrachtete ihr Gesicht, und etwas in seinem Innern krampfte sich zusammen.
»Mein Gott ...«Er schaute Hanusch an, der mitfühlend lächelte. Wie Fabel musterte er die Leiche und die erbärmliche Szene nicht nur mit den Augen eines Polizisten, sondern auch mit denen eines Vaters, der vor den sterblichen Überresten einer jungen Frau stand.
»Wir sollten die Eltern benachrichtigen«, sagte Hanusch. »Ich werde versuchen, sie ausfindig zu machen. Vielleicht hat das Mädchen einen Ausweis.«
»Nicht nötig, ich kümmere mich darum«, erklärte Fabel. »Ich weiß, wo sie wohnen. Nur ein paar Blocks von hier.«
Fabel spürte, wie Anna und Hanusch ihn forschend ansahen, aber er fuhr nur fort: »Sie wollte Ärztin werden. Ihr Name war Christa Eisel. Sie hat Medizin an der Universität Hamburg studiert.«
6.
»Was ist los?«, fragte Susanne. »Du klingst niedergeschlagen.«
»Bin ich auch. Das Übliche. Ich komme gerade von einem Mordtatort. Ein Mädchen von neunzehn oder zwanzig Jahren. Medizinstudentin, Prostituierte im Nebenjob. Irgendein alter Perversling hat sie erwürgt.«
»Meine Güte«, sagte Susanne. »Doch nicht das Mädchen, von dem du mir erzählt hast – das Jake Westland gefunden hatte?«
»Ja, genau die. Ich habe versucht, sie zu warnen, Susanne, aber sie wollte nicht zuhören.«
»Es ist nicht deine Schuld, Jan. Ist ihr Tod mit den anderen Morden verknüpft?«
»Nein ... Reiner Zufall. Oder vielleicht auch nicht – in dem Milieu. Darauf wollte ich sie hinweisen. Und ich weiß, dass es nicht meine Schuld ist, aber irgendwie fühle ich mich verantwortlich.«
»Das liegt an deinem Alter, Jan. Du hast nun das Stadium erreicht, in dem du mehr und mehr Menschen als deine Söhne oder Töchter ansiehst.«
»Vielen Dank, Dr. Eckhardt, für die aufmunternden Worte. Nicht nur, dass die Welt zum Teufel geht, sondern ich stehe auch noch mit einem Fuß im Grab.«
»Das trifft die Sache. Aber im Ernst, ist alles in Ordnung?«
»Ja, bestens. Nur schade, dass du heute Abend wegfährst.«
»Es ist nur für ein paar Tage. Ich hab's meiner Mutter seit einer Ewigkeit versprochen.«
»Sehen wir uns noch, bevor du aufbrichst?«
»Das hängt davon ab, wann du von der Arbeit heimkommst, aber ich bezweifle es. Der Zug fährt um neunzehn Uhr ab. Viel Glück mit der Falle für die Walküre. Ruf mich morgen bei meiner Mutter an und lass mich wissen, wie es gelaufen ist.«
Fabel wünschte Susanne eine gute Reise und legte auf. Er wünschte sich, er hätte seine Verabredung mit Otto nicht für den Vortag, sondern für diesen Abend getroffen. Andererseits würde er wahrscheinlich ohnehin arbeiten. Auf eine Aktion wie die im Alsterpark konnte man sich gar nicht gründlich genug vorbereiten.
Er schlenderte durch das Großraumbüro der
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