Walküre
Mordkommission, um mit Anna Wolff zu sprechen.
»Hat Muliebritas weitere Einzelheiten über die andere Anzeige geliefert?«
»Nein«, erwiderte Anna. »Sie haben ihr Bestes getan, aber sie sind in eine Sackgasse geraten. Jemand hat es irgendwie geschafft, in ihre Datenbank einzudringen und ein Inserat zu schalten, ohne Spuren zu hinterlassen.«
»Das ist die einzige Antwort?«
»Die einzige Antwort, die wir hören wollen«, murmelte Anna. »Denn sonst müsste jemand, der für Muliebritas arbeitet, die Anzeige aufgegeben haben.«
»Das ist nicht ausgeschlossen«, sagte Fabel, »wenn wir bedenken, dass Muliebritas der NeuHansa Group gehört.«
»Aber wenn es ein Insider ist, stecken wir in der Klemme. Dann fliegt unser Plan für morgen auf.«
Fabel verzog das Gesicht. »Das hätte noch gefehlt.«
»Sollen wir die Sache abblasen?«, fragte Anna.
Er dachte einen Moment lang nach, bevor er energisch den Kopf schüttelte. »Ich weiß nicht, wer das Inserat geschaltet hat, aber es ist nicht die Walküre. Es muss jemand sein, der Kontakt herstellen will. Wir haben noch anderthalb Wochen bis zum ersten Montag des Monats, der verabredeten Zeit für ein Treffen nach dem Erscheinen der Anzeige. Ich habe mit dem BKA und der Polizei von Halberstadt gesprochen. Sie werden uns helfen, an dem Tag eine Überwachung zu organisieren. Aber hoffen wir, dass wir sie schon morgen erwischen.«
Fabel machte Überstunden. Methodisch ging er sämtliche Schritte mit dem Team durch und wiederholte das Verfahren zweimal, bevor er die Beamten ziehen ließ. Bis 20 Uhr blieb er in seinem Büro sitzen. Noch einmal sah er die Mitschriften der Vernehmungen durch, die er selbst, andere Ermittler und Susanne mit Margarethe Paulus geführt hatten. Sein überwältigendes Gefühl bei der Lektüre war nicht Entsetzen, Zorn oder Abscheu, sondern eine tiefe Traurigkeit.
Das Walküre-Projekt war das Erzeugnis einer anderen Zeit, einer anderen Mentalität gewesen. Eines anderen Deutschland. In seiner kalten, kalkulierten Skrupellosigkeit war es ohne jede Rücksicht auf die ausgewählten Mädchen ersonnen und realisiert worden. Man missachtete ihr Leben, ihre Träume und Hoffnungen völlig. Sie waren Instrumente des Staates gewesen, mehr nicht. In vielerlei Hinsicht war das Walküre-Projekt typisch für sämtliche Maßnahmen gewesen, die die Stasi vierzig Jahre lang durchgeführt hatte.
All ihre Träume waren erstickt worden. – Hier verbarg sich irgendetwas vor ihm. Fabel blätterte die Vernehmungsprotokolle durch, bis er das Gesuchte entdeckt hatte: eine kurze Gesprächspassage zwischen den härteren Fragen:
Hauptkommissar Fabel: Warum hat man Sie und die anderen Mädchen ausgewählt?
Margarethe Paulus: Wir alle hatten etwas, woran ihnen lag. Oder eine Mischung von Eigenschaften. Wir alle waren sportlich, zeichneten uns in der Schule aus und waren parteitreu. – Darf ich ein Glas Wasser haben?
Eine Pause, während Wasser für die Befragte geholt wird.
Hauptkommissar Fabel: Sie sagten, sämtliche Mädchen seien sportlich gewesen. Was war Ihre Sportart?
Margarethe Paulus: Alles. Besonders Leichtathletik. Aber ich war nicht gut genug für ernsthafte Wettbewerbe. Das war bei Anke anders.
Hauptkommissar Fabel: Anke Wollner? Wieso?
Margarethe Paulus: Anke und Liane hatten besondere Begabungen. Liane war zum Beispiel ganz groß in Sprachen. Und beim Debattieren. Aber Ankes Begabung hätte ihr die Teilnahme an den Olympischen Spielen ermöglichen können. Als Juniorin war sie eine Skifahrerin von Weltklasse. Und natürlich eine ausgezeichnete Schützin. Ihr Spezialgebiet war das Biathlon. Aber all das hörte auf als sie in das Projekt einbezogen wurde.
Fabel griff nach seinem Schreibtischtelefon. Als sich die Hotelrezeption meldete, bat er, ihn mit Karin Vestergaards Zimmer zu verbinden.
»Karin? Hier ist Jan. Hören Sie, ich bin auf etwas gestoßen. Von den beiden anderen Walküren ist Anke Wollner die wahrscheinlichste Kandidatin dafür, dass Drescher sie für seine Altersversorgung benutzte – stimmt's?«
»Es sieht so aus ...«
»Margarethe Paulus hat bei ihrer Vernehmung ausgesagt, dass Ankes vielversprechende Laufbahn als Weltklassesportlerin durch die Aufnahme ins Walküre-Projekt beendet wurde.«
»Na und?«
»Die Stasi konnte all ihre Unterlagen verschwinden lassen und den Namen Anke Wollner auslöschen. Genau wie im Fall der beiden anderen Mädchen. Aber nicht, wenn sie außerhalb der DDR erfasst war. Falls sie
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