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Walküre

Walküre

Titel: Walküre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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Japan hatte importieren lassen. Oder den dänischen, von Hans J. Wegner entworfenen Ox-Chair, der sie über sechstausend Euro gekostet hatte. Sie setzte sich aufs Sofa und griff nach der Zeitschrift.
    Vielleicht war es Onkel Georg, der ihre Stimmung gedrückt hatte. Er war bei ihrer letzten Begegnung so ... melancholisch gewesen. Das hatte sie beunruhigt.
    Georg Drescher war von allen »Onkel« genannt worden. Im Rückblick war auch das – wie die anderen Dinge, die man Anke, Liane und Margarethe angetan hatte – sorgfältig geplant gewesen. Keine richtige Vaterfigur. Bestimmt kein Liebhaber. Ein Onkel. Ein älterer Mann, dem sie sich zuwenden und auf den sie sich immer verlassen konnten. Ihre Ausbilder hatten sich das Wissen um die Psyche heranwachsender Frauen zunutze gemacht und sie perfekt auf Drescher konditioniert. Der Sozialismus war nebensächlich. Die DDR war nebensächlich. Das Einzige, worauf es ankam, war, ihren Onkel Georg nie und nimmer zu enttäuschen.
    Dann, als sich die politische Achse der Welt verlagerte, verschwand der Sozialismus, und die DDR existierte nicht mehr. Inzwischen waren auch Margarethe und Liane nicht mehr da. Margarethe, nun geistig verwirrt, taugte nicht länger zur Agentin. Man hatte, wie Onkel Georg Anke später anvertraute, lediglich erreicht, dass ein schwer gestörtes Mädchen zu einer gefährlich gestörten Mordmaschine geworden war. Und Liane ... Sie war zu perfekt gewesen. Sie besaß genau das, was man gesucht hatte: eine beispiellose Unbarmherzigkeit und eine vollständige Missachtung anderer. Diese Gefühle brachte sie allerdings auch Onkel Georg, der Stasi und dem Staat entgegen. Liane hatte ihre Lektion vortrefflich gelernt und wurde im Westen eingesetzt, bevor man den Fehler erkannte. Sie nutzte die Fertigkeiten, die man ihr beigebracht hatte, ausschließlich für ihre eigenen Ziele.
    Damit blieb nur noch sie übrig, Anke, obwohl sie sich schon seit Langem nicht mehr so nannte. Sie war Onkel Georgs Liebling. Nach dem Fall der Mauer hatte Drescher sein eigenes kleines Unternehmen gegründet und Anke ausgesandt, um Menschen, die sie nicht kannte, im Auftrag von Menschen zu töten, die sie ebenfalls nicht kannte. Nicht aus Gründen der Ideologie oder der Staatssicherheit, sondern für klingende Münze.
    Und das war ihr durchaus recht. Sie wusste, dass Margarethe klüger und Liane hübscher gewesen war, doch Anke hatte das Gespür für eine erfolgreiche Partnerschaft gehabt. Und die Zusammenarbeit mit Onkel Georg war bisher bestens verlaufen.
    Aber nun schlichen sich Anflüge von Sentimentalität in das Verhalten des alten Mannes ein. Dafür gab es in diesem Geschäft keinen Platz.
    Onkel Georg hatte die Methoden des Kalten Krieges zur Kontaktaufnahme beibehalten, indem er die Zeitschrift für Verabredungen benutzte. Außerdem gab es fünf tote Briefkästen in Hamburg, deren er sich bediente. Er hatte Anke gegenüber behauptet, er sei ein alter Fuchs, dem man keine neuen Tricks mehr beibringen könne. Aber sie kannte die Wahrheit: Onkel Georg blieb bei diesen Methoden, um sich Anke vom Leibe zu halten – die Furcht des Schlangenbeschwörers, gebissen zu werden.
    Dabei war es eine ungerechtfertigte Furcht. Anke kannte niemanden, der einem Familienangehörigen näherkam als er. Und sie würde nie jemanden kennen. Das hieß nicht, dass sie nie die Möglichkeit erwogen hätte, ihn zu töten, um ihre Identität zu schützen, falls er infolge seines Alters oder aus anderen Gründen seine Professionalität verlor. Aber wenn es Zeit wurde, sich zu trennen, würde sie ihn sein Leben in Frieden beschließen lassen. Wahrscheinlich.
    Sie legte die Zeitschrift nieder. Das hier ergab keinen Sinn.
    Zwei Nachrichten. Eine kam von Onkel Georg. Und die andere ... die andere war so falsch, wie sie nur sein konnte. Der falsche Ort und die falsche Zeit. Muliebritas war die Signaltafel, über die Onkel Georg sie wissen ließ, dass er mit ihr sprechen musste und dass sie ein weiteres Treffen auszuführen hatte.
    Doch diese Worte hier waren fehl am Platze. Anke las sie erneut: Rot wird die Luft von Menschenblut, eh' unser weissagendes Lied verhallt.
    Das war der Code gewesen, auf den sie sich geeinigt hatten, falls sie je wieder miteinander Kontakt aufnehmen wollten. Aber Anke hatte sich nie gewünscht, mit den beiden anderen in Verbindung zu bleiben. Schon damals hatte sie gewusst, dass sie die einzige wahre Walküre war. Margarethe war verrückt, und Liane verfolgte ihre eigenen

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