Walküre
des Tiefbauamts vorbeigegangen. Eine Gruppe Arbeiter hatte es sich daneben bequem gemacht. Sie hätte auflachen können. Um den Schein zu wahren, hätte man wenigstens einen älteren oder übergewichtigen Polizisten mit heranziehen können. Die Arbeiter rochen förmlich nach einer Spezialeinheit. Nach dem MEK der Polizei Hamburg. Es waren sechs Männer, die unter ihren Overalls bestimmt kugelsichere Westen trugen. Anke wusste, dass sie schnell waren und bei einer langen Verfolgung mit ihr Schritt halten konnten. Um vom Mobilen Einsatzkommando der Polizei Hamburg aufgenommen zu werden, musste man dreitausend Meter in weniger als dreizehn Minuten und dreißig Sekunden zurücklegen können. Aber die kugelsicheren Westen würden sie behindern. Beine und Kopf. Wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ, würde sie auf Beine und Kopf zielen. Die Polizisten hatten einen gewaltigen Vorteil, was Zahl und Ausrüstung anging, aber Ankes Trumpf war, dass sie streng nach Vorschrift handeln würden. Nach Schema F.
Fabel beobachtete sie und zögerte – davon war sie überzeugt. Jede Sekunde des Zögerns ließ sie näher an die Stadt, die Straßen und Menschen herankommen. Wenn sie erst einmal dort war, konnte sie fliehen. Falls man sie verfolgte, würde sie größtmögliches Unheil anrichten und die Polizisten in einer Flut toter Passanten hinter sich lassen.
Das Polycarbonatmesser. Die Beretta. Drei Reservemagazine mit jeweils vierzehn Patronen in ihrer Umhängetasche.
Sie konnte zur Alsterchaussee hinaufblicken. Wichtig war, nichts zu überstürzen. Sie blieb ruhig und hielt die Geisel unverändert fest. Gleich war sie dort. Er würde es nicht riskieren. Fabel würde es nicht riskieren.
Onkel Georg. Sie hatten Onkel Georg.
Dann begriff Anke: Sie hatten Onkel Georg nicht, sondern er war tot. Sie horchte tief in sich hinein, um etwas zu spüren. Aber sie fühlte kaum etwas.
Sie dachte an ihre gemeinsamen Gespräche. An die Zeit, als sie fünfzehn Jahre alt gewesen war und er ihr alles beigebracht hatte, was sie beherrschte. Sie erinnerte sich, wie sie zu viert an einem Sommertag im Gras vor der Ausbildungsanstalt gesessen hatten. Die Sonne hatte Anke auf den Nacken gebrannt. Sie erinnerte sich an den kühlen Orangensaft, den sie getrunken hatten, und an die wenigen Momente, in denen Onkel Georg, Liane, Margarethe und sie über alberne, belanglose Dinge geplaudert hatten.
»Dies ist ein goldener Augenblick«, hatte Onkel Georg erklärt. »Genießt solche Augenblicke zwischen den Treffen. Kostet sie aus.«
Und in jenem goldenen Moment hatte sie wahrhaftig das Gefühl gehabt, dass die anderen ihre Schwestern waren und dass Onkel Georg ihr wirklicher Onkel sein könnte. Sie hatte einen flüchtigen Eindruck von einem unbekannten Leben erhalten. Es war eine perfekte, goldene Lüge für einen perfekten, goldenen Augenblick gewesen. Doch sogar in jener Lüge hatte sie erfahren, wie man sich als Teil einer Familie fühlen mochte.
Und nun war Onkel Georg tot.
Für eine Sekunde verspürte sie mitten im frostigen Hamburger Winter die Wärme jenes längst vergangenen Sommernachmittags. Und jetzt empfand sie den Schmerz, den Kummer, nach dem sie in ihrem Innern gesucht hatte.
Plötzlich hörte Anke, dass jemand von hinten auf sie zulief und rief, sie solle die Geisel loslassen und stehen bleiben.
Fabel hatte es also doch riskiert.
Siebtes Kapitel
1.
Anke Wollner wirbelte herum und hielt ihren Gefangenen wie einen Schild vor sich. Sie wusste natürlich, dass ihr noch andere MEK-Leute und Kriminalbeamte auf den Fersen sein würden, aber die Hauptgefahr kam nun von vorn. Die sechs MEK-Männer hatten sich in drei Zweierteams aufgeteilt. Die Standardformation, streng nach Vorschrift.
Die als Joggerin verkleidete Frau rief erneut, sie solle stehen bleiben. Anke feuerte zwei Schüsse ab und traf sie in beide Beine. Die Frau schrie auf und stürzte zu Boden. Anke zielte auf ihren Kopf, war sich jedoch der MEK-Männer bewusst, von denen nun drei vorrückten und drei Deckung gaben. Sie schoss dem Ersten ins Gesicht. Die anderen eröffneten das Feuer, doch ihre Kugeln gingen daneben. Offenbar hatten sie Angst, die Geisel zu treffen. Sie gab zwei weitere Schüsse ab. Der eine verfehlte sein Ziel, der andere zerfetzte einem MEK-Angehörigen die eine Gesichtshälfte.
Zwei tote Polizisten. Eine schwer verletzte Beamtin. Sie würden zurückweichen, damit keine Zivilisten in Mitleidenschaft gezogen wurden. Anke schob sich rückwärts auf den
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