Wallander 08 - Die Brandmauer
zu jagen.
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Am Donnerstag morgen blieb Wallander fast bis zehn Uhr zu Hause. Er war früh aufgewacht und fühlte sich ausgeschlafen. Seine Freude darüber, eine ganze Nacht ungestört geschlafen zu haben, war groß, erlitt aber sogleich einen Rückschlag von schlechtem Gewissen. Er hätte arbeiten, am besten um fünf Uhr aufstehen und die frühen Morgenstunden zu etwas Sinnvollem nutzen sollen. Er hatte sich oft gefragt, woher diese Einstellung zur Arbeit kam. Seine Mutter war Hausfrau gewesen und hatte sich nie darüber beklagt, nicht außerhalb der eigenen vier Wände zu arbeiten. Zumindest nicht so, daß Wallander sich daran erinnern konnte.
Sein Vater hatte sich wahrlich auch nicht gerade übernommen, es sei denn, er hatte es selbst gewollt. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen Bestellungen für eine größere Partie Gemälde eingegangen waren, hatte er häufig verärgert reagiert, weil er nicht in seinem eigenen Rhythmus arbeiten konnte. Hinterher, wenn einer der Männer im Seidenanzug gekommen war und die Partie abgeholt hatte, war er unmittelbar wieder in den alten Trott verfallen. Zwar war er immer früh am Morgen in sein Atelier gegangen und hatte sich nur zu den Mahlzeiten gezeigt, aber Wallander hatte mehrmals heimlich durch ein Fenster geschaut und entdeckt, daß sein Vater nicht ständig vor der Staffelei saß. Manchmal hatte er auf einer schmutzigen Matratze in der Ecke gelegen und geschlafen oder gelesen. Oder er hatte an einem wackeligen Tisch gesessen und Patiencen gelegt. Wallanders innere Triebkräfte bestanden hingegen aus einer Anzahl böser und ewig unbefriedigter Furien. Was das Aussehen betraf, wurde er jedoch seinem Vater immer ähnlicher.
Gegen acht rief er im Präsidium an. Der einzige, den er erreichen konnte, war Hansson. Alle in der Ermittlungsgruppe waren mit ihren jeweiligen Aufgaben beschäftigt. Daraufhin hatte Wallander |381| entschieden, ihre Besprechung auf den Nachmittag zu verschieben. Anschließend ging er in die Waschküche und entdeckte zu seiner Verwunderung, daß sie frei war und sich niemand für die kommenden Stunden eingetragen hatte. Er setzte sofort seinen Namen auf die Liste und ging in seine Wohnung, um die erste Ladung Wäsche zu holen.
Als er die Waschmaschine angestellt hatte und zum zweitenmal in seine Wohnung zurückkehrte, lag der Brief auf dem Fußboden im Flur. Er trug keinen Absender. Sein Name und seine Anschrift waren mit der Hand geschrieben. Er legte ihn auf den Küchentisch und dachte, daß es sich um eine Einladung handelte oder um den Brief eines Jugendlichen, der mit einem Kriminalbeamten korrespondieren wollte. Ganz ungewöhnlich war es nicht, daß Briefe direkt abgegeben wurden. Danach hängte er seine Bettdecke auf den Balkon. Es war wieder kälter geworden. Aber noch kein Frost. Der Wind wehte schwach. Eine dünne Wolkendecke bedeckte den Himmel. Erst später, nach der zweiten Tasse Kaffee, öffnete er den Brief. In dem Umschlag lag ein zweiter Brief. Ohne Namen. Er öffnete ihn und las. Zuerst begriff er gar nichts. Dann erkannte er, daß er tatsächlich eine Antwort auf seine Kontaktannonce bekommen hatte. Er legte den Brief hin, drehte eine Runde um den Tisch und las ihn noch einmal.
Die Frau, die ihm schrieb, hieß Elvira Lindfeldt. Sie hatte kein Foto mitgeschickt. Doch Wallander beschloß trotzdem sogleich, daß sie sehr schön war. Ihre Schrift war gerade und energisch. Schnörkellos. Das Kontaktbüro hatte ihr seine Annonce geschickt. Sie hatte sie gelesen, war interessiert und hatte am selben Tag geantwortet. Sie war neununddreißig Jahre alt, ebenfalls geschieden, und sie lebte in Malmö. Sie arbeitete bei einer Speditionsfirma, die Heinemann & Nagel hieß. Sie beendete den Brief damit, daß sie ihm ihre Telefonnummer schrieb und hinzufügte, sie hoffe, sie würden sich bald treffen können. Wallander fühlte sich wie ein hungriger Wolf, dem es endlich gelungen war, eine Beute zu erlegen. Er wollte auf der Stelle anrufen. Aber er besann sich und beschloß, den Brief fortzuwerfen. Es würde sowieso ein Reinfall werden. Sie würde sicher enttäuscht sein, weil er ganz anders war, als sie ihn sich vorgestellt hatte.
|382| Außerdem hatte er keine Zeit. Er befand sich mitten in einer der kompliziertesten Mordermittlungen, für die er je die Verantwortung getragen hatte. Er machte noch ein paar Runden um den Tisch. Es war unsinnig gewesen, überhaupt an das Kontaktbüro zu schreiben. Er nahm den Brief, zerriß ihn und warf
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