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Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Titel: Walled Orchard 01: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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die Arme und stieß mich wieder weg. Ich war so damit beschäftigt, die einzelnen Teile der Rüstung festzuhalten, daß ich prompt mit dem nächsten Jungen zusammenprallte, der zur Tribüne unterwegs war, und ihn dabei glatt umstieß. Nach einem Irrweg, der mir länger erschien als sämtliche Irrfahrten des Odysseus zusammen, fand ich schließlich zurück zu meinem Platz in der Menge, stieß einen tiefen Erleichterungsseufzer aus und ließ die Rüstung einfach fallen. Natürlich knallte sie mit einem unbeschreiblichen Klirren und Scheppern auf den Boden, woraufhin sich alle umzudrehen schienen, um mich entsetzt anzustarren. Von diesem Tag an haßte ich die Rüstung, die mir auch später nicht besonders viel Glück brachte, wie man noch zu gegebener Zeit sehen wird.
    Wie ich schon zuvor berichtete, war Perikles etwa ein Jahr später tot. Eigentlich müßte man sich als Historiker glücklich schätzen, solch einen wichtigen und bedeutenden Mann getroffen zu haben, bei mir ist das allerdings 85
    keineswegs der Fall. Ich denke, es wäre viel besser gewesen, wenn mein Vater nicht gefallen wäre und ich nie eine Rüstung aus öffentlichen Mitteln erhalten hätte. Meine einzige Entschuldigung für diese bedauerliche Einstellung lautet, daß ich, auch wenn ich heute Historiker bin, damals eben keiner war – ich bin mir nicht einmal sicher, ob man die Geschichtsschreibung zu jener Zeit überhaupt schon erfunden hatte –, und deshalb entstand mein damaliger Eindruck ohne Zuhilfenahme einer Dosis Historiker-instinkt. Was Perikles selbst angeht, habe ich es auf ziemlich ungewöhnliche Weise geschafft, mein verschwommenes Bild von einem Übermenschen, das ich bis zum heutigen Tag von ihm habe, nicht durch unsere Begegnung beeinflussen zu lassen. Der kleine Fettwanst mit dem komischen Kopf, behaupte ich einfach, kann gar nicht dieser ruhmreiche Heerführer gewesen sein, der die Stadt in den Jahren vor dem Krieg regiert hat, und genausowenig kann es sich bei ihm um dieses fette Scheusal gehandelt haben, das ich jedesmal in Gedanken sehe, wenn ich nach einem schönen Abend einen meiner Zeitgenossen eine Stelle aus einer Komödie von Kratinos singen höre. Diese beiden Wesen führten und führen immer noch ganz verschiedene Eigenleben. Wenn ich nicht aufpasse, glaube ich irgendwann noch an den ganzen Unsinn, den man heutzutage von den Leuten hört, die nichts Besseres zu tun haben, als im Gymnasion herumzulungern und von der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz urbildlicher Ideen zu schwafeln.
    Alle diese Erinnerungen an die Vergangenheit haben mich jetzt völlig durcheinandergebracht. Außerdem habe 86
    ich manchmal Schwierigkeiten, mich mit der Tatsache abzufinden, daß ich damals immer an den richtigen Schauplätzen gewesen bin und in alle die großen Ereignisse verwickelt war, die man jetzt für aufzeichnenswert hält. In der Odyssee gibt es eine Stelle, die mit diesem merkwürdigen Gefühl ziemliche Ähnlichkeit hat: Nachdem Odysseus alle Schiffe und Gefährten verloren hat, strandet er auf einer entlegenen Insel, auf der niemand die leiseste Ahnung hat, wer er ist.
    Trotzdem darf er im Saal des Königs sitzen, wo er Haferbrei ißt und sich über seine Lage Gedanken macht.
    Da gibt der Sänger Demodokos eine Weise über längst vergangenen Heldenmut von sich, in der es sich ausschließlich um das Leben des berühmten Odysseus und den Untergang von Troja dreht. Einen Moment lang denkt unser Held daran aufzustehen und zu sagen: ›Das bin ich!‹, aber er widersteht diesem Drang. Schließlich singt Demodokos von einem Helden und nicht von ihm, denn die ihm zugeschriebenen Wundertaten hat er in Wirklichkeit nie vollbracht.
    Komm schon, Eupolis, kehr lieber wieder zu deiner eigenen Geschichte zurück, solange du dich noch nicht mehr als eine große Bogenschußweite vom Zusammenhang entfernt hast. Perikles’ Politik zur Führung des Peloponnesischen Kriegs war mehr als einfach: Da nach seinem Dafürhalten jede größere Landschlacht zwischen Athen und Sparta zwangsläufig mit einem entscheidenden Sieg der Spartaner enden mußte, hielt er es von seiner Seite her für einen raffinierten Zug, einfach sämtliche größere Landschlachten aus seinem Veranstaltungsprogramm zu 87
    streichen. Statt dessen ließ er die gesamte Bevölkerung Attikas sofort in der Stadt zusammenpferchen, sobald auch nur ein einziger Spartaner mit dem kleinen Zeh die Grenze überschritten hatte, und sandte die Flotte aus, um vor den spartanischen

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