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Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Titel: Walled Orchard 01: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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jemals träumen ließ, Athen könne womöglich den Krieg verlieren. Schlimmstenfalls würden wir uns alle im darauffolgenden Jahr wieder in der Stadt einfinden, um unsere Gespräche und Diskussionen 90
    fortzusetzen. Doch damals waren wir Athener davon überzeugt, daß es wir alles schaffen konnten und es für unsere zu verwirklichenden Pläne keine Grenzen gab. Wir waren nicht nur entschlossen, früher oder später sämtliche Völker der Welt zu besiegen, sondern waren mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem wir auf jede beliebige Frage eine Antwort parat hatten. Wir hegten nicht den geringsten Zweifel, daß alles gelöst oder erklärt werden konnte, wenn man nur lange genug darüber nachdachte und diskutierte. Kurz, es gab immer irgend etwas, womit man sich beschäftigen, und stets etwas Neues und Schönes, auf das man sich freuen konnte. Daß wir uns in der Zwischenzeit weiterhin mühsam von den Erträgen derselben kleinen Landflecken ernähren mußten, auf denen sich vor uns schon unsere Väter zu Tode geschuftet hatten, wurde bei der allgemeinen Begeisterung gern übersehen.
    Ich weiß noch, wie eines Tages ein Mann nach Athen kam, der von irgendeinem skythischen Anführer verbannt worden war. Die Stadt war gerade voller Menschen – und das war noch viele Jahre vor dem Krieg, an einem ganz normalen Markttag! –, und er konnte alles das, was sich die Einwohner untereinander erzählten, gar nicht fassen. Er hörte sie darüber sprechen, wie man die Eroberung Ägyptens fortsetzen könne, wenn man erst mal die Perser erledigt habe, und wie kinderleicht herauszufinden sei, ob die Seele den Augenblick des Sterbens überlebe, wenn man nur Vergleiche mit Dingen wie Feuer oder dem Stimmen von Musikinstrumenten anstelle. Zum Schluß konnte sich der Skythe nicht mehr beherrschen und brach mitten auf dem Marktplatz in schallendes Gelächter aus. Natürlich war das seinen Gastgebern schrecklich peinlich, und vor 91
    lauter Verlegenheit wußten sie nicht einmal, wo sie hinschauen sollten. Daraufhin entschuldigte sich der Barbar auf der Stelle bei ihnen für sein eigenartiges Verhalten.
    »Tut mir leid«, sagte der Skythe, »aber ich kann nichts dafür, ich muß einfach lachen. Ihr Athener seid alle so unglaublich verdreht.«
    »Wieso?« fragten seine Gastgeber überrascht. »Was findest du an uns so komisch?«
    »Na ja, einerseits seid ihr alle eifrig damit beschäftigt, die Welt unter euch aufzuteilen, den ganzen Himmel zu erklären und Entschuldigungen für die unsterblichen Götter zu finden, aber andererseits gießt ihr euch morgens immer noch als erstes gegenseitig eure Nachttöpfe über den Schädel. Während ihr mit den Köpfen die Wolken durchstoßt und sich eure unsterblichen Seelen vergeistigen, stecken eure Füße gleichzeitig bis zu den Knöcheln in der Scheiße von jemand anders. Es braucht nur ein Regenschauer zu kommen, und schon verwandelt sich eure prächtige Stadt in einen einzigen unerträglichen Schlammhaufen. In meiner Heimat denken wir nicht im Traum daran, das nächste Tal zu annektieren, und es hat auch niemand nur die leiseste Ahnung, ob der Regen nun durch die Sonnentätigkeit über dem Meer entsteht oder nicht, aber wenigstens bringen wir unsere Exkremente aus dem Lager hinaus und kippen sie an einer Stelle aus, wo sie nicht gleich jeden belästigen.«
    Früher einmal habe gewußt, wie die Athener auf diesen Vorwurf reagierten. Ich vermute, es muß sich um eine 92
    höchst brillante Antwort gehandelt haben, denn der ganze Sinn der Erzählung liegt ja darin zu zeigen, daß wir Athener allen anderen Völkern auf der Welt überlegen sind. Aber zu dieser Episode gibt es noch eine Fortsetzung, die nicht ganz ohne Bedeutung ist, und da ich gerade zum Geschichtenerzählen aufgelegt bin, werden Sie sich noch ein wenig gedulden müssen.
    Derselbe Skythe hatte nämlich während seines Aufenthalts in Athen ein Verhältnis mit der Frau eines Bürgers. Diese Frau hieß Myrrhine, und ihr Gatte war ein Mann namens Euergetes. Er war ein ausgesprochen rechtschaffener und frommer Mann und zu Hause wahrscheinlich kaum zu ertragen, so daß es nicht besonders schwerfällt, seiner Frau die Sehnsucht nach einem flüchtigen Rausch der Sinne zu verzeihen.
    Jedenfalls kam der Skythe eines Tages mit der festen Überzeugung zu Besuch, Euergetes werde bis zum späten Abend in der Volksversammlung sitzen. Als Geschenk brachte er ein kleines Fläschchen mit kostbarem syrischen Parfüm mit. Als er bereits den Umhang und

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