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Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Titel: Walled Orchard 01: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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Ähnlichkeit mit meinem Vater, und ich wurde auf diese Weise notgedrungen zum Sohn des Königs von Ithaka, dem schönen, von seinen intellektuellen Fähigkeiten her allerdings leicht minderbemittelten Prinzen Telemachos, der auf die Heimkehr seines ruhmreichen Vaters aus dem Trojanischen Krieg wartet. Was Hektor angeht – nun, soweit ich mich erinnern kann, hatten damals alle kleinen Jungen in Attika dasselbe Bild von Hektor: ein Mann in mittleren Jahren, aber sehr viel jünger aussehend, der sein von Sorgen geprägtes Gesicht zu einem ermutigenden Lächeln zwingt und dessen Kopf höchst eigenartig geformt war, was Homer allerdings zu erwähnen vergaß. Mit anderen Worten: Hektor wurde zu Perikles. Dieser Hektor-Perikles hat sogar meine Freundschaft mit Kratinos und die Erinnerung an meine Begegnung mit dem athenischen Staatsmann selbst bis zum heutigen Tage überdauert.
    Alle diese überflüssigen Rückblicke sind lediglich ein Vorwand, um die unangenehme Aufgabe, mein eigenes Äußeres zu beschreiben, noch ein wenig hinauszuzögern.
    Bislang habe ich dieses Versäumnis in meiner Erzählung damit gerechtfertigt, daß es völlig sinnlos sei, Ihnen zu schildern, wie ich als Junge ausgesehen habe – unter zehn Jahren ähneln sich alle Kinder wie ein Ei dem anderen, und wer etwas anderes behauptet, der lügt. Außerdem wurde mein Aussehen sowieso durch die Pest grundlegend verändert.
    Der Verlust eines Fingers war beileibe nicht die einzige Narbe, die ich zurückbehielt. Auch die Muskeln der linken Gesichtshälfte trugen unerfreuliche und bleibende Schäden 100
    davon. Meiner Meinung nach muß damals etwas Ähnliches wie ein Muskelschwund oder zumindest ein Ende in der Entwicklung der Muskeln eingetreten sein, denn seit jener Zeit laufe ich mit einem permanenten Grinsen im Gesicht herum. Das mag zwar zu einem Komödiendichter wie angegossen passen, wirkt aber leider auf alle Menschen, denen ich im Laufe meines Lebens begegne, arg verunsichernd. Mein Haar, einst dicht und sehr lockig, fiel nach und nach in ganzen Büscheln wie Federn aus einem löchrigen Kissen, bis mein Kopf bereits an meinem vierzehnten Geburtstag kahl wie eine Murmel war.
    Überdies bin ich nie zu voller Größe herangewachsen, so daß ich heute einen ganzen Kopf kleiner als die meisten anderen Männer bin. Meine Arme sowie Brust und Schultern wurden nie muskulös, sondern blieben kümmerlich und unansehnlich, und ich wirke im allgemeinen sehr viel schwächer und mickriger, als ich in Wirklichkeit bin. Selbstverständlich kann ich dasselbe Arbeitspensum erbringen wie jeder andere Mann, auch wenn ich dünne Arme habe wie ein Mädchen. Aber ich bin eben nie das gewesen, was man als ›stattlich‹ oder
    ›gutaussehend‹ bezeichnet, und deshalb wurde ich auch nicht von einer Schar Verehrer umschwärmt, wie sie sich den meisten Jungen auf der Schwelle zum Mannesalter an die Fersen heftet. Auf meinem Nachhauseweg von der Schule überreichte mir nie jemand kleine Geschenke wie Äpfel oder Birnen, in den Bädern machte mir keiner schöne Augen: und Vasen mit der Aufschrift ›Eupolis ist schön‹ habe ich auch nie gesehen. Zu keiner Zeit sind mir nachts vor meinem Fenster Ständchen gebracht oder unanständige Komplimente in die Türpfosten geritzt 101
    worden – bis auf ein einziges Mal, und das, da bin ich mir ziemlich sicher, war mein lieber Vetter Kallikrates, der damit verhindern wollte, daß ich mich als Außenseiter fühlte.
    Die unumstößliche Regel lautet nämlich: Alle Athener sind schön, und nur schöne Menschen können auch ehrlich, klug, aus gutem Hause oder sonst etwas sein. Aus diesem Grund nennen wir die Angehörigen der Oberschicht, also die Reiter und schwerbewaffneten Fußsoldaten, ›die Schönen und Guten‹, während Ruderer und Menschen ohne Landbesitz mit den Bezeichnungen ›die Häßlichen‹
    und ›die Stupsnasen‹ belegt werden. Dahinter steckt natürlich eine gewisse Logik, denn um gut auszusehen, muß man selbstverständlich gesund sein und immer reichlich zu essen haben, wohingegen unansehnliche Leiden wie Rachitis und Hautausschlag zum größten Teil durch Unterernährung hervorgerufen werden.
    Da ich offensichtlich kein schöner Junge war, mußte ich nach allen Regeln der Logik eine Sklavenseele besitzen, und demzufolge waren nicht allzu viele meiner Mitmenschen bereit, sich mit mir abzugeben. Doch schon bald machte ich die Erfahrung, daß man andere Leute dazu bewegen kann, sogar über Häßlichkeit hinwegzusehen,

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