Walled Orchard 01: Der Ziegenchor
und der Bewirtschaftung seines Grund und Bodens begnügt, dann bezweifle ich, ob er mit Ausnahme der Menschen, die das Pech hatten, in der Nähe seiner Gerberei zu wohnen, jemals einen einzigen Feind auf der Welt gehabt hätte. Er war ein von Natur aus stiller und sensibler Mensch, der nichts so sehr schätzte wie eine bequeme Liege in einem freundlichen Haus, den einen oder anderen Becher guten Weins und dazu ein paar Freunde, die mit ihm gemeinsam die Hymne auf den Tyrannenmörder Harmodios sangen.
Doch tief in seinem Innern brodelte eine Unruhe, die ihn dazu trieb, alles mögliche auszuprobieren und zu verbessern; den Anblick von Unfähigkeit, verschenkten oder verpaßten Gelegenheiten konnte er einfach nicht ertragen. Darüber hinaus hatten ihn die Götter mit einer 105
sehr lauten Stimme und einer angeborenen Redegewandtheit gestraft, und irgendwann einmal muß ihm ein Schwachkopf erzählt haben, daß er, wenn er so erfolgreich eine Gerberei zu führen wisse, wahrscheinlich auch in der Lage sei, Athen zu regieren. Also macht sich Kleon auf und geht in die Politik. Und weil er diesen furchtbaren Drang verspürt, bei allem, was er anfaßt, Erfolg zu haben (das ist nämlich typisch athenisch), geht er an die Politik genauso heran wie an den Lederhandel, indem er die Zwischenhändler umgeht und direkt an die Masse der Endverbraucher verkauft. Er hält sich erst gar nicht lange damit auf, sich wie Perikles für eines der großen Staatsämter zur Wahl zu stellen, sondern steht in der Versammlung auf und sagt (oder schreit) einfach frei seine Meinung heraus. Dabei stellt sich dann heraus, daß sein Kopf ständig voller neuer und noch aufregenderer Ideen steckt, wie man die Wähler noch reicher machen oder sie zumindest durch Klagen bei Gericht vor den zwar größtenteils nicht näher bestimmbaren, aber dennoch höchst bedrohlichen und gefährlichen Aktivitäten der politischen Gegner schützen kann. Durch diesen Ideenreichtum wurde Kleon schnell zum mächtigsten Mann in Athen.
Eigentlich sollte ich mich schämen, solch ein sentimentaler, weichherziger alter Demokrat zu sein, aber mir fällt es wirklich schwer, mit Kleon hart ins Gericht zu gehen, weil ihm sowieso von vielen Seiten Feindseligkeiten entgegenschlugen. Damit will ich nicht unterstellen, er sei ein guter oder sogar wohlmeinender Mensch gewesen – ganz im Gegenteil, denn er war ein 106
Egozentriker, dessen Größenwahn Athen unsäglichen Schaden zufügte. Aber das gleiche kann man von allen großen Staatsmännern unserer langen und ruhmreichen Geschichte behaupten, so daß man ein solches Gehabe irgendwann als ganz normal empfindet. Kleon brachte immerhin ein bißchen Format in ein ansonsten erbärmliches und wenig erhebendes Schauspiel, und wenn er es nicht getan hätte, wäre bestimmt jemand anders mit weit geringerem Unterhaltungswert in seine Rolle geschlüpft. Was ich Kleon jedoch einfach nicht verzeihen kann, ist eher ein Vergehen gegen Dionysos als eins gegen die Stadt – er erstattete Anzeige gegen einen Komödiendichter.
Wenn ich Komödiendichter sage, meine ich Aristophanes, den talentlosesten Menschen, dem jemals von einer allzu nachsichtigen Nation ein Chor bewilligt worden ist. Ohne Frage wurde Kleon von ihm in einem unerträglichen Maß provoziert. Dabei meine ich nicht durch das, was Aristophanes über ihn auf der Bühne sagte, denn Kleon konnte genau wie jeder andere einen Scherz vertragen, selbst einen schlechten und endlos wiederholten Witz über die Größe und das Aussehen seines Fortpflanzungsorgans. So habe ich ihn einmal im Publikum während eines Stücks von Aristophanes beobachtet, in dem es ausschließlich um persönliche Angriffe auf den Politiker ging, und ich glaube sogar, Kleon gefiel die Komödie sehr viel besser als mir. Nein, was Kleon so aufregte, war das, was Aristophanes hinter seinem Rücken auf Gesellschaften, bei Opferfesten und auf dem Marktplatz über ihn sagte. Aus irgendeinem Grund, den ich nie 107
verstehen konnte, schenken die Leute Aristophanes’
Äußerungen Glauben, obwohl alle, die ihn nur halb so gut kennen wie ich, ihm nicht einmal die Behauptung abnähmen, sie hätten zwei Ohren.
Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, daß Kleon den Dichter Aristophanes wegen Staatsverleumdung in Gegenwart von Ausländern anzeigte, was eines der furchtbarsten Verbrechen ist, dessen man beschuldigt werden kann, obwohl bisher noch niemand dazu gekommen ist, genauer zu definieren, was daran so verwerflich ist.
Weitere Kostenlose Bücher