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Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Titel: Walled Orchard 01: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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glaube, in diesem Augenblick war er völlig verunsichert, denn er hatte bestimmt nicht damit gerechnet, daß sich ein Kind so gut in Rechtssachen auskannte. In Wahrheit hatte ich natürlich keine Ahnung davon; mein letzter Satz war mir einfach so herausgerutscht, da es sich dabei ganz zufällig um einen in unserer Familie häufig gebrauchten Spruch handelte. Jedenfalls blickte sich der Fremde verlegen um, als suche er irgendwo nach einer Eingebung, als sein Blick zufällig auf den alten weißen Ziegenbock fiel, der von mir dazu ausersehen worden war, eines Tages den Vorsitz des Preisgerichts auf den Panhymettischen Festspielen zu übernehmen.
    »Zunächst einmal lade ich als Hauptbelastungszeugen den Ziegenbock vor, den Sohn des Ziegenbocks vom Gehöft des Peisistratos«, fuhr er fort. »Den Bock da, der mein persönliches Eigentum ist.«
    »Nein, das stimmt nicht!« protestierte ich. »Der gehört meinem Vater!«
    »Sei still, du kleiner Barbar, sonst zeige ich dich wegen Hehlerei an«, drohte mir der Fremde. Dann schien er jedoch einen Gewissenskonflikt mit sich auszutragen, der in ihm den Wunsch zum Einlenken hervorrief. »Ich sage dir, was ich tun werde«, fuhr er schließlich fort. »Ich habe nämlich keine Lust, mir die ganzen Strapazen eines Prozesses aufzuhalsen. Eine solche Sache kann sich über Tage hinziehen und ruft nichts als Mißstimmung zwischen Nachbarn hervor. Deshalb nehme ich mir einfach das, was 114
    mir gehört, und du kannst deinem Vater ausrichten, daß er gerade noch einmal davongekommen ist. Na, wie klingt das?«
    »Das finde ich wirklich nett von dir und ist eines echten Atheners würdig«, entgegnete ich demütig. »Und da es dein Bock ist, wirst du auch sicher über seine Angewohnheiten Bescheid wissen.«
    »Seine Angewohnheiten? Ja, klar. Schließlich habe ich den Bock selbst großgezogen und ihn mehr als einmal mit meinen eigenen Händen vor den Wölfen retten müssen.«
    Nun ging er auf den alten weißen Ziegenbock zu und versuchte, ihn mit den Händen und dem Saum seines Umhangs vor sich herzuscheuchen. Daß er das tun würde, hatte ich natürlich von vornherein gewußt, ebenso die Tatsache, daß unser alter weißer Bock so etwas absolut nicht ausstehen konnte – schließlich war er der König der Ziegen und besaß gewisse Rechte. Er senkte den Kopf, gab ein Geräusch wie ein enttäuschtes Publikum von sich und schoß direkt auf den Fremden zu. Dann rammte er ihm die Hörner in die Magengrube und warf ihn dabei zu Boden.
    Der Fremde fiel recht ungünstig, denn er landete mit dem Hinterkopf auf einem Stein, und er fluchte laut. Der Bock blickte ihn noch eine Weile voller Verachtung an, dann schüttelte er in der Manier eines Ratsmitglieds den Bart und trottete zur Herde zurück.
    »Vielleicht sollte ich zur Anzeige wegen Viehdiebstahls noch zusätzlich eine wegen Zauberei in Tateinheit mit Körperverletzung erstatten«, schimpfte der Fremde, während er sich das Blut mit dem Saum seines Umhangs 115
    elegant von der Schläfe wischte. »Dein Vater, der offenbar in Persien war und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Verräter ist, hat meinen armen Bock mit einem babylonischen Fluch belegt und ihn in ein wildes, menschenmordendes Ungeheuer verwandelt. Als ein Grieche ist es meine heilige Pflicht, diesen Bock zu töten, um damit den Zorn der Götter zu beschwichtigen.«
    Er rappelte sich mühsam auf, wickelte sich den Umhang um den linken Arm und zog mit der Rechten sein Schwert.
    Währenddessen sah ich, daß er zur Abwehr böser Geister ein kleines Amulett mit einer Darstellung der Hekate um den Hals trug. Das verriet mir, daß er abergläubisch war, und mehr brauchte ich nicht zu wissen.
    »Du bist nicht nur mutig, sondern auch noch klug, Fremder«, schmeichelte ich ihm. »Nur wenigen Menschen wäre aufgefallen, was mit dem Bock passiert ist. Wie bist du darauf gekommen? Ist dir sein gespaltener Huf am rechten Vorderlauf aufgefallen?«
    Für einen Moment zögerte der Fremde, und vielleicht fuhr seine Hand auch nur unwillkürlich zum Amulett, das ich kurz zuvor erwähnt habe.
    »Gespaltener Huf?« stammelte er.
    »Aber es handelt sich nicht um einen medischen Zauber«, fuhr ich munter fort. »Ich glaube, das ist ein thessalischer oder so was ähnliches. Es ist wirklich ganz furchtbar geworden, seit mein Vater aus Thessalien zurückgekehrt ist. Keiner der Nachbarn will mehr mit uns reden. Ich habe die sogar im Verdacht, daß die eine tote Katze in unseren Brunnen geworfen

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