Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
Waschmittelgeruch ihrer Bluse, die Kerbe in der Mitte des Küchenholztisches! Wie oft hat sie die Augen geschlossen und ihre Mutter im beigen Morgenmantel gesehen, wie sie, bevor sie schlafen geht, noch mal ins Wohnzimmer kommt, ihr, Wendy, einen Gutenachtkuß auf die Stirn gibt und sagt, sie solle nicht vergessen, wenn sie mit dem Lesen fertig sei, das Licht auszumachen!
Wie bei jedem Besuch in Salzburg ist Wendy ein wenig beunruhigt, weil die Mama so einen einsamen Eindruck macht; ihr fehlen die Kinder in der Schule, weiß Wendy, die Kollegen; statt dessen malt sie Bilder, Öl, Landschaften, Salzburg, Objekte in der Wohnung, nicht schlecht, soweit Wendy das beurteilen kann; die Mama malt nur für sich, und sie, die Mama, denkt daran, daß sie eigentlich mal auf der Akademie freischaffende Künstlerin werden wollte, sie hatte ja auch ein paar Ausstellungen, damals; sie denkt an das Leben, das auch hätte sein können, weiß Wendy und hat ein schlechtes Gewissen und muß sich doch immer wieder sagen, daß sie es hier keine Woche aushalten würde, so schön es auch gerade ist.
Und Esther. Wie oft hat sie sich danach gesehnt, vor Esthers Wohnungstür zu stehen . . . Esthers freudestrahlendes Gesicht . . . ihre Lippen . . . ihre immer leicht rauhen Lippen mit Nikotingeschmack . . . faule Sonntage zu zweit im Bett . . . wo sie schon so oft in der Vergangenheit ganze Nachmittage mit Diskussionen verbracht haben . . . wo sie sich geliebt haben . . . den österreichischen Dialekt im Ohr und nicht dieses Berliner Gebell . . . Hand in Hand durch Salzburg gehen, auf dem Weg zu ihrer Stammkneipe, den Kuttenkeller .
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Sie liegt auf dem Rücken im Bett. Durch das geöffnete Fenster dringt von draußen der Straßenlärm, eine Autoalarmanlage, Kinder, die spielen. Sie hat den rechten Arm über ihren Kopf gelegt. Sie atmet gleichmäßig.
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„Das sollte also das letzte Mal sein. Walter konnte seine Trauer kaum verbergen. Kaum, daß er einen Satz herausbrachte. Er schämte sich dafür, daß seine Stimme zitterte. So wie Elsbeth da vor ihm stand, so wollte er sie sich einprägen und für immer im Gedächtnis behalten. Für immer – denn falls er nicht einmal doch nach Amerika kommen sollte, was er für nicht recht wahrscheinlich hielt, würde er Elsbeth, seine Elsbeth, mit der er so oft im Heu gelegen hatte, mit der er die Kühe gehütet hatte und der er im Sommer oben am Waldbach seine Liebe gestanden hatte, nie wiedersehen. Warum hatten es sich ihre Eltern auch in den Kopf gesetzt, es den vielen anderen im Dorf gleichzutun und auszuwandern? Und warum war seine Familie nicht wohlhabend genug, so daß er um Elsbeths Hand hätte anhalten können?“
Wendy hört zu diktieren auf. Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen.
Wie schon die letzten Tage und Nächte sieht sie auch jetzt Esthers Gesicht vor sich.
Esther, die weint, als Wendy ihr sagt, sie glaube, es habe keinen Sinn mehr mit ihnen.
„‚Meine Elsbeth!‘ und immer wieder ‚Meine Elsbeth!‘, seufzte er, als er sich herunterbeugte und sie ihre zarten Arme um ihn schlang. Es war ihm, als müßte er vergehen. ‚Walter! Mein Walter!‘, hörte er sie schwach.“
Wendy löscht „schwach“ und diktiert: „hauchen. Noch einmal berührten sich ihre glühenden Lippen. Und während sie so standen, spürte er, wie ihr Herz an seiner Brust schlug, schnell und heftig, als wäre es sein eigenes.“
Wendy hört zu diktieren auf.
Im Lauf der letzten zehn Jahre haben sich ziemlich viele solcher Mitten von potentiellen Romanen in ihrem Retro-Apple angesammelt. Meistens zwei, nie mehr als zehn Seiten. Wendy findet sich gerade ganz schön inkonsequent. Sie denkt: Irgendwie setze ich mich immer spontan hin und schreib los und verlier dann das Interesse daran, und bevor ich etwas fertigmache, fange ich lieber was Neues an, ich hasse das, ich hasse das, ich hasse das.
Während ihrer Jane-Austen-Phase vor acht Jahren hat sie immer wie Jane Austen, während ihrer Gertrude-Stein-Phase vor drei Jahren hat sie immer so wie Gertrude Stein geschrieben. Zur Zeit geht ihr die Handlung und der Stil so eines Retro-Heimat-Machwerks namens Das Taschentuch, mit dem sie winkte nicht aus dem Sinn, das sie für die Zugfahrt am Bahnhof in Salzburg kaufte, weil sie irgendwas nicht so Anspruchsvolles brauchte, etwas, das sie ablenkte, von dem, was geschehen war.
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Am 16. März um 18:37 Uhr trägt Wendy zum ersten Mal seit 10 Jahren wieder Lidschatten und Wimperntusche auf, schlüpft in
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