Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
lila. Wendy spricht Figurenkonstellationen ein: Mutter tot, Vater lebt, die bewunderte große Schwester, die bewunderte Freundin. Wendy programmiert die Butch, Wendy programmiert die Dyke, Wendy bestimmt: Was weist auf eine weibliche Syntax hin? Übermä-ßiger Gebrauch der Konjunktionen „und“ und „oder“, Interjektionen, Emily Dickinsonsche Gedankenstriche, Auslassungszeichen.
Wenn Wendy in diesem Moment auf das typisch männliche Vokabular Caesars und Klaus achtet – allein jetzt, innerhalb der letzten Minute, unglaubliche zwölfmal der Gebrauch der Apostrophe „man“! Sowie dreimal der Apostrophe „guys“, ganz zu schweigen von dem Gesprächsthema, dem männlichsten aller Spiele, American Football; dazu noch, als Steigerung, ein Wettbewerb, der Superbowl heißt! – und aus dem Augenwinkel den typisch effeminierten Dieter beobachtet – schmächtig, Rehaugen, dazu Bewegungen, die geschmeidig genannt werden können: Statt breitbeinig wie Caesar zu gehen, tippelt Dieter –, dann ist das sozusagen die Feuerprobe für Wendys Software; dafür, ob die Kriterien, die Wendy Gerti beigebracht hat, auch tatsächlich stimmen, das heißt in echt anwendbar sind.
Dieter sagt: „I really liked your Salzburger Nockerln.“
Wendy sagt: „That’s very nice, thank you. I spent the whole afternoon in the kitchen and nobody seems to have noticed that.“
08
Und sie tritt aus dem Büro ihrer Professorin, Frau Schauber, für Wendy Ines, ihre künftige Doktormutter, auf den Flur, sie hat eben erfahren, daß sie, wenn sie möchte, auf eine Forschungsstelle an die Humboldt nach Berlin gehen und dort Gerti weiterentwickeln könne, und ihr wird klar, daß sie, wenn sie jetzt Esther sieht, die von der Wartebank aufsteht und sie anlächelt, nicht mehr so tun kann, als sei noch immer alles so wie früher zwischen ihnen, und sie nimmt jetzt trotzdem Esthers Hand, weil sie noch nicht weiß, wie sie es ihr sagen soll.
Früher, das heißt vor Oxford – Wendy erscheint das schon so lange her –, früher, da sind sie wie Zwillinge gewesen: dieselben Seminare, dieselben Noten, seit dem zweiten Semester unzertrennlich, immer gemeinsam unterwegs, gemeinsam im Urlaub, Wandern in Irland, gemeinsamer Vortrag auf dem LLC ( Lesbian Literature Congress ) in München, Wendy: Teil 1 (Theorie), Esther: Teil 2 (Textanalyse), ähnliche Klamotten, die sie, weil sie dieselbe Größe haben, regelmäßig tauschten, seit zwei Jahren gleicher Kurzhaarschnitt, zudem kommen sie, wenn sie miteinander schlafen, schon seit ihrem ersten Mal, damals in Esthers Bude, immer gleichzeitig.
Aber seit Oxford hat sich eben einiges geändert . . . Denn obwohl sich sowohl Wendy als auch Esther faktisch im zehnten Semester befinden, ist Wendy Esther jetzt ein Jahr voraus, weil Esther erst im Herbst ihre Magisterprüfung haben wird, Wendy aber in Oxford in drei monsterstressigen Trimestern ihren Master absolviert hat. Das ist gerecht. Wendy hat in einem Jahr die Arbeit gemacht, die sie sonst in zwei Jahren gemacht hätte. Esther war in Salzburg geblieben, weil sie, im Gegensatz zu Wendy, ihre Hilfskraftstelle bei Ines nicht einfach so aufgeben wollte. Man habe nicht so viele Connections sonst, so Esther. An Esther kann Wendy sehen, wie ihr, Wendys Leben, in diesem einen Jahr verlaufen wäre, hätte sie sich gegen Oxford entschieden: Bis auf den Unterschied, daß Esther in ihrer eigenen Bude wohnt und nie ihre Eltern in Wien besucht, mit denen sie, seit sie 18 ist, nichts mehr zu schaffen hat, wäre Wendys Leben das Esthers gewesen.
Vor allem aber hat Gerti dazu geführt, daß Wendy sich selbst plötzlich anders wahrnimmt. Als sie zwei Wochen lang Schilderungen diverser weiblicher Kleidungsstücke in ihren Retro-Apple eingegeben hatte, hatte sie eines Abends Lust bekommen, so zu tun, als sei sie Leslie, die Heldin aus dem gleichnamigen NY-High-Society-Enthüllungsroman. Auf einem Ball der foreign students hatte sie sich zum ersten Mal seit fünf Jahren die Beine rasiert und ein Kleid getragen, ein Kleid à la Leslie: scharlachrot, kurz, mit Ausschnitt. Sie hatte Leslie-like mit einem US-Akzent gesprochen und zuerst mit einer Portugiesin, dann, wie Leslie, mit einem Schwarzen, der tatsächlich aus Brooklyn stammte, geflirtet.
Den ganzen nächsten Morgen hatte sie mit Heulkrämpfen im Bett verbracht. Sie hatte all das über Bord geworfen, für was sie und vor allem Esther gestanden und zumindest an der Uni sowie im Verein der lesbischen Frauen Salzburgs gekämpft
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