Walter Ulbricht (German Edition)
aufmerksam geworden, der mich Prof. Helga Wittbrodt 7 empfahl, der Chefin des Regierungskrankenhauses in Berlin, zu dem auch das Heinrich-Mann-Sanatorium gehörte. Die Chefarztstelle war vakant, und so wurde ich berufen. Prof. Wittbrodt stellte mich der Belegschaft kurz vor und fuhr wieder ab. Im Nachgang muss ich sagen: Es ist schon erstaunlich, welch grenzenloses Vertrauen damals in junge Leute gesetzt wurde. Das aber entsprach dem Geist jener Jahre. Ich war gerade mal 30 und wurde Chef von einer so wichtigen Einrichtung, ohne dass sie mich persönlich kannte.
Wie war sie so als Chefin? Es gibt kaum Nachrichten über sie.
Prof. Wittbrodt war eine gute Chefin, ihre souveräne Gelassenheit imponierte mir. Sie ließ mich an der langen Leine laufen, wie man so sagt. Nur wenn sie häufig anrief, wusste ich: Es ist was im Busch. Allerdings klärte sie Probleme nie am Telefon, sie ließ mich nach Berlin kommen. Das war ihre Taktik. So auch im Sommer 1971. Sie rief mich an: »Genosse Fuckel, ich würde dich gern einmal sprechen, komm mal bitte her.«
Wie gewohnt überprüfte ich mich selbstkritisch: Was hast du falsch gemacht, welches Problem gibt es, wo hast du was Falsches gesagt?
Entgegen meiner Befürchtung gab es jedoch nichts dergleichen. Der Genosse Ulbricht ist krank, eröffnete sie mir, er liegt zu Hause in Wandlitz, wir brauchen einen betreuenden Arzt.
Einen Leibarzt.
Diesen Begriff benutze ich bewusst nicht. Er ist auch keiner, der zur DDR passt.
Du hast zugesagt?
Erstens wurde gerade das Sanatorium in Bad Liebenstein rekonstruiert, und zweitens fühlt ich mich durch eine solche Offerte natürlich auch geschmeichelt.
Warum gerade du?
Prof. Wittbrodt sagte, Walter Ulbricht möchte einen Arzt haben, der von der Pike auf gedient hat, »Wissenschaftler« habe er genug um sich. Am liebsten wäre ihm ein Armeearzt – warum, das könne sie mir auch nicht sagen, aber den habe sie nicht. Und: er müsse auch spritzen können, habe Ulbricht gesagt. Offenkundig hatte er diesbezüglich schon schlechte Erfahrungen gemacht.
Hattest du vorher jemals etwas mit ihm zu tun gehabt?
Überhaupt nicht.
Und dann bist du mit Prof. Wittbrodt nach Wandlitz gefahren?
Ja, sie musste mich, nachdem ich zugesagt hatte, ihm ja vorstellen. Und Prof. Baumann, Konsulararzt und Kardiologe, war auch noch dabei. Wir trafen Ulbricht im Bett liegend in seinem Haus. Er musterte mich aufmerksam, wobei mir klar war, dass er schon informiert worden war, wer da an seinem Bett stand, er verschaffte sich nur einen persönlichen Eindruck per Augenschein. Er stellte mir einige Fragen, natürlich auch die wichtigste, ob ich diese Aufgabe übernehmen wolle. Das sei ein 24-Stunden-Dienst und mit ihm als Patienten gewiss nicht einfach.
Du musstest von Thüringen nach Wandlitz ziehen?
Nein, ich pendelte. Wir waren zwei Kollegen und wechselten uns ab: Ich machte vierzehn Tage Dienst und dann zwei Wochen frei, in dieser Zeit war Dr. Mühlberg vor Ort. Im Medizinischen Stützpunkt in Wandlitz gab es noch einen Pfleger. Ich wurde immer mit einem Pkw von Bad Liebenstein abgeholt und nach Wandlitz und wieder retour gebracht.
Was konkret war deine Aufgabe?
Ihn täglich zu untersuchen, im Bedarfsfall medizinische Indikationen vorzunehmen und ihn zu begleiten, wenn er unterwegs war, etwa in den Staatsrat, ins ZK oder an den Döllnsee fuhr.
Woran litt er?
Ich halte mich auch im Falle Ulbrichts an meine ärztliche Schweigepflicht. 8 Nur soviel: Er war ein Mann, der auf die 80 zuging, Schweres durchgemacht hatte und insbesondere in den letzten 25 Jahren sehr hart arbeitete, was – trotz gesunder Lebensweise: er trank nicht, er rauchte nicht und trieb zeitlebens Sport – merkliche Spuren bei ihm hinterlassen hatte.
Wie war das Verhältnis zu ihm?
Erstaunlich gut. Zwischen Arzt und Patient gibt es naturgemäß eine Distanz, und hier, so fürchtete ich zunächst, würde sie besonders groß sein, womit ich schief lag.
Warum nahmst du das an?
Wir waren altersmäßig fast ein halbes Jahrhundert auseinander, er war der erste Mann im Staat und verkörperte Geschichte, hatte die Welt gesehen und manchen Strauß ausgefochten, während ich, mit Verlaub, ein unbedeutender Kurarzt aus der Provinz war, der noch nie den Thüringer Wald verlassen hatte.
Minderwertigkeitskomplexe?
Keineswegs. Aber so war nun mal die Relation. Dennoch ließ Ulbricht diese Distanz nicht spüren. Ja, stimmt, er redete wenig, wirkte verschlossen, aber dennoch nicht unnahbar. Obgleich er
Weitere Kostenlose Bücher