Walter Ulbricht (German Edition)
brachten, mit dem diese in die Sowjetunion zum Studium fuhr. Lotte verabschiedete sie am Ostbahnhof mit Küsschen, er war wie immer, also ein wenig zurückhaltender. Wenn die beiden unterwegs waren und, wie man heute sagt, »in der Menge badeten«, gingen sie auf die Leute zu, sprach meist die Frauen an, während Walter die Männer bevorzugte. Das war, wenn man die beiden beobachtete, eine gut funktionierende Arbeitsteilung. Sie war kommunikationsfreudig, er abwartend und überlegt, aber dann engagiert.
Mit die schönsten Motive gab es alljährlich am 30. Juni, wenn Pioniere bei ihm in Wandlitz am Geburtstag zum Gratulieren kamen.
Du hast 1971 jenes bekannte Foto von Ulbricht gemacht, als er im Morgenmantel und Pantoffeln das Politbüro empfängt, das damals, als es im Neuen Deutschland erschien, und noch heute bei jenen, die sich daran erinnern, helle Empörung auslöst, weil es den Staatsmann Walter Ulbricht desavouierte. Wie kam diese Aufnahme überhaupt zustande?
Der Protollchef des Zentralkomitees rief mich am Morgen des 30. Juni an. Das Politbüro fahre nach Wandlitz zum Gratulieren, sagte er. Wir brauchen ein Bild für die Zeitung. Ich wusste weder, wie groß die Delegation sein würde, noch in welchem Raum das stattfinden sollte und schnappte meine Hasselblad. Es war anderthalb Wochen nach dem VIII. Parteitag, an dem Ulbricht nicht hatte teilnehmen können, weil er krank geworden war und die Ärzte von einer Teilnahme abrieten. Dort war der Wachwechsel vollzogen worden. Die Delegierten wählten das Zentralkomitee, und dieses bestätigte Honecker in seiner Funktion, die er bereits am 3. Mai 1971, auf dem ZK-Plenum, von Ulbricht übernommen hatte.
Eine Stunde vor dem genannten Termin war ich in Ulbrichts Haus. Er liege noch im Bett, sagte Lotte Ulbricht. »Genosse Anders, es dauert noch eine Weile, dann wird er kommen.« Dann erschien Walter Ulbricht und begrüßte mich. Aber er konnte schlecht stehen, war merklich geschwächt, also setzte er sich und wartete. Auch er schien nicht zu wissen, wer und wie viele Personen kommen würden. Er saß dort also auf dem Stuhlsessel und harrte aus. Dann erschienen plötzlich Honecker und das ganze Politbüro, der Raum war gefüllt. Ich trat bis an die Wand zurück, um alle aufs Bild zu bekommen, doch trotz Weitwinkelobjektiv gelang das nicht. Darum machte ich ein zweiteiliges Panoramabild.
Der Film ging so zu ADN und ist dort entwickelt worden.
Du hast also die Abzüge nicht selbst gezogen, nicht die Ausschnitte festgelegt und die Bilder auch nicht gesehen, bevor sie herausgegeben wurden?
Nein. Ich war nur der Fotograf.
Wer gab die beiden Bilder frei?
Das weiß ich nicht. Ich vermute mal, dass das im ZK geschah.
Wie hast du das Foto, das am nächsten Tag im ND erschien, gefunden?
Als nicht gut. Man hätte zumindest den unteren Teil mit den Pantoffeln abschneiden müssen. Meine Kollegen, die wussten, dass das namentlich nicht gezeichnete Bild von mir stammte, haben mich dafür scharf kritisiert. Westagenturen, die ursprünglich das Bild hatten haben wollen, zogen es nicht grundlos vor, die Aufnahme mit der ND -Seite zu faksimilieren, damit auch der letzte die damit unterstellte Botschaft verstand. Nicht das Foto an sich war der Skandal, sondern die Veröffentlichung dieses Ausschnitts und die Platzierung im Zentralorgan der Partei.
Aber möglicherweise waren Wahrnehmung und Interpretation von jenen, die mein Foto in die Zeitung rückten, weder so gewollt noch bedacht worden. Vielleicht sollte die Botschaft lediglich lauten: Walter Ulbricht ist tatsächlich krank. Schließlich war er nicht auf dem Parteitag gewesen, was natürlich Fragen aufgeworfen hatte. Es gab innerhalb und außerhalb der Partei Diskussionen und Spekulationen über die Meldung, Ulbricht fehle »aus gesundheitlichen Gründen«. Und nun sollte das Bild den Beweis liefern, dass es ihm wirklich nicht gut gehe. Viele meiner Kollegen und Bekannten haben mir gleich gesagt: Siegfried, das Bild ist nicht gut. Sie haben recht. Ich glaube nicht, dass es erst durch die spätere Interpretation schlecht wurde. Es zeigte einen hinfälligen Greis in einer wenig vorteilhaften Lage. Weißt du, ich will das nicht rechtfertigen, nur mir zu erklären versuchen, was dahinter gesteckt haben könnte.
Du kennst doch das Gedicht von Peter Hacks »Der Fluch«, das er damals zu diesem Foto gemacht hat. Darin kommst auch du vor, als namenloser »Photokünstler«.
Nein, kenne ich nicht.
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Peter Hacks: Der Fluch
Als
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