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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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1. Kapitel
    1952
Zwei Schweigeminuten
    Um zwei Uhr am Nachmittag des 15. Februar 1952 fiel die ganze Nation zu Ehren des toten Königs für zwei Minuten in Schweigen. Es war der Tag seiner Beerdigung.
    Der Verkehr ruhte. Die Telefone klingelten nicht. Im Radio war nur Rauschen. Auf den Straßenmärkten wurde der Verkauf von Nylonstrümpfen unterbrochen. Im Ritz stellte man solange das Servieren des Mittagessens ein. Die Kellner standen mit über den Arm gelegten Servietten still da.
    Einigen, die in einem haltenden Bus festsaßen, deren Webstuhl plötzlich stockte oder die mitten in einer Blaskapellprobe gewesen waren, kam die Stille endlos und lastend vor. Viele weinten, und zwar nicht nur um den König, sondern auch um ihrer selbst und Englands willen: weil die Zeit so entsetzlich langsam verstrich.
    Auf die Bauernhöfe in Suffolk fiel ein leichter, nasser, salzähnlicher Schnee.
    Die Wards standen dicht beisammen auf einem Feld. Da der Minutenzeiger von Sonny Wards Uhr abgefallen war, wußte er nicht genau, wann die beiden Schweigeminuten begannen. Seine Frau Estelle hätte es gern vermieden, an diesem trüben Tag so in der Kälte herumzustehen. Sie hatte vorgeschlagen, drinnen zu bleiben, mit einem behaglichen Feuer im Kamin und dem Radio, das ihnen mitteilte, was zu tun war. Doch Sonny hatte nein gesagt, sie müßten unter freiemHimmel stehen, damit ihre Gebete leichter den Weg nach oben fänden. Er hatte gemeint, die Menschen in England schuldeten es ihrem unglücklichen König, das Wort für ihn zu ergreifen, damit er wenigstens im Himmel nicht stottern mußte.
    Da standen sie nun, versammelt auf einem Kartoffelfeld: Sonny und Estelle, ihre Tochter Mary und ihr kleiner Sohn Tim. Sie sehen mitleiderregend aus, ging es Sonny durch den Kopf, mitleiderregend und ärmlich. Und sein Verdacht, daß das Schweigen seiner Familie nicht richtig mit dem der Nation übereinstimmte, ärgerte Sonny noch lange Zeit danach. Er hatte seinen Nachbarn Ernie Loomis gebeten, ihm zu sagen, wann sie anfangen mußten, doch der hatte es vergessen. Sonny hatte geglaubt, daß es vielleicht irgendein Startzeichen geben würde – eine Schrift am Himmel oder eine Sirene in Lowestoft –, doch nichts dergleichen geschah. Daher legte er, als der Stundenzeiger seiner Uhr auf der Zwei war, die Hacke aus der Hand und sagte: »Nun gut. Dann schweigen wir jetzt.«
    Sie fingen also damit an.
    Der Salzschnee fiel auf ihre Schultern.
    Es war ein Schweigen in einer bereits vorhandenen Stille, doch nur Mary wußte, daß die Erinnerung daran ein Leben lang anhalten würde.
    Mary Ward war sechs Jahre alt. Sie hatte kleine Füße und Hände und ein rundes, flaches Gesicht, das ihre Mutter an eine Sonnenblume denken ließ. Ihr glattes braunes Haar wurde von einer Schildpattspange aus der Stirn gehalten. Wegen eines Sehfehlers trug sie eine runde Brille, deren Bügel hinter den Ohren drückten. An diesem Tag des Schweigens hatte sie einen zu kurzen Tweedmantel, violette Fausthandschuhe, Gummistiefel und ein wollenes Kopftuch mit Windmühlen und blauen Holländern darauf an. Ihr Vater, der bemerkte, wie sie mit leerem Blick in den Schneeregen blinzelte, dachte, daß sie traurig anzusehen war.
    Man hatte ihr gesagt, sie solle an König Georg denken undfür ihn beten. Da sie sich aber nur an seinen am Hals abgeschnittenen Kopf auf der Zweipence-Briefmarke erinnern konnte, betete sie für diese. Die Gebete wurden jedoch rasch langweilig und verflüchtigten sich, und so drehte sie den Kopf mal hierhin und mal dorthin, in der Hoffnung, trotz ihres eingeschränkten Sehvermögens zu sehen, wie ihr Perlhuhn Marguerite anmutig pickend über den gepflügten Boden zu ihr kam.
    Estelle hatte an diesem Morgen versehentlich eine Strähne ihres dicken schwarzen Haars mit der Nähmaschine an ein Stück Fallschirmseide genäht. Sie hatte aufgeschrien, als sie sah, was sie angerichtet hatte. Es war grotesk. Es war wie ein Verbrechen an sich selbst. Und obwohl sich Estelle jetzt, in der Stille, ruhig verhielt, hörte sie doch noch irgendwo in der Ferne ihr Schreien. Sie stand mit gesenktem Kopf da, bemerkte aber, wie Sonny aufschaute und seinen Blick erst auf Mary und dann auf ihr ruhen ließ. Sie hatte nicht den toten König, aufgebahrt in seiner schicken Marineuniform, vor Augen, sondern sich selbst in ebendiesem Moment – groß in der flachen Landschaft, schön, trotz ihres malträtierten Haars, ein Rätsel, eine Frau, die immer weiter durch die Zeit fiel und deren

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