Walzer der Liebe
die Kensington Road einbog und am Tor des benachbarten Anwesens vorbeifuhr, wurde ich an Hugh Carlyle und seine Geschichte von der nackten Dame erinnert, die den Jaktationsprozess geführt hatte. Erneut überlegte ich, ob die Geschichte wahr sei. Leider konnte ich weder meine Tante noch Miss Mason oder Louisa danach fragen, selbst wenn ich den Wunsch dazu gehabt hätte, denn sonst hätte ich notgedrungen enthüllen müssen, wie taktlos Mr. Carlyle gewesen war, als er eine solche Geschichte einer jungen unverheirateten Dame wie mir erzählte.
Wie ermüdend es war, diese junge Dame zu sein! Diese Erkenntnis hätte mich beinahe veranlasst, so schnell wie möglich zu heiraten, um der ganzen Rücksichtnahme auf die Schicklichkeit zu entgehen. Zum ersten Mal fühlte ich mich innerlich Louisa verbunden, die in ihrer Handlungsfreiheil ebenso eingeschränkt war wie ich.
3. KAPITEL
Ich war froh, dass sich weder am nächsten noch am übernächsten Tag ein geheimnisvoller Drohbrief in der Morgenpost befand. Vielleicht war der Absender zur Vernunft gekommen und hatte begriffen, dass ein so bösartiges Verhalten zu nichts Gutem führen konnte. Während ich mein Frühstück einnahm, war ich maßlos erleichtert darüber, dass ich nur einen Brief von meinem Onkel erhalten und kein Kuvert vorgefunden hatte, das mit dem Abdruck eines Gänseblümchens in auffallend grellblauem Siegellack versehen war.
An diesem Vormittag hatte Louisa einige Dinge in der Bond Street zu erledigen und bat mich, sie zu begleiten.
Wir nahmen die Kutsche. Louisa bewegte sich nicht gern zu Fuß und vermied Spaziergänge so weit wie möglich. Vor dem ersten Geschäft, in dem sie etwas kaufen wollte, stiegen wir aus. Neben der Eingangstür kauerte ein kleines mageres Mädchen in zerlumpten Sachen. Es hatte einen Korb mit Veilchen und hielt uns mit bittendem Blick ein Sträußchen entgegen.
„Geh mir aus dem Weg!" herrschte Louisa die Kleine an und stieß sie mit der behandschuhten Hand beiseite.
Das Kind torkelte, fiel hin und ließ den Korb los. Die Blumen wurden über den Gehsteig und die Straße verstreut. Ein vorbeitrottendes Pferd trat auf zwei Bouquets, und ich hörte das Mädchen entsetzt aufschreien. Hastig bemühte es sich, die übrigen Blumen einzusammeln. Ich bückte mich, um ihm zu helfen.
„Connie, was machst du da?" rief Louisa empört. „Komm sofort mit in den Laden!"
Ich gab dem kleinen Mädchen den letzten Strauß und lächelte es an, ehe ich Louisa gehorchte. Ich war wütend auf sie, sehr wütend, und das musste sich wohl in meiner Miene widergespiegelt haben, da meine Cousine sagte: „Sieh mich bitte nicht so an, Connie. Dreckige Bettlerin! Ihr und ihresgleichen sollte verboten werden, vornehme Leute zu belästigen.''
„Sie hat nichts Unrechtes getan", erwiderte ich kalt. „Du warst sehr grob zu ihr, und durch dein Verhalten hat sie Einnahmen eingebüßt, deren Verlust sie sich wahrscheinlich nicht leisten kann."
Louisa zuckte achtlos mit den Schultern. „Sie ist unwichtig. Es gibt Hunderte von solchen Kindern, die betteln. Bestimmt hast du sie überall gesehen, nicht wahr? Alle haben Geschwüre, oder sie sind verkrüppelt oder blind. Wusstest du, dass einige von ihnen absichtlich von ihren Verwandten geblendet wurden, damit sie mehr Mitleid erregen? Sie haben keinen größeren Wert als Tiere."
Ich fröstelte innerlich. Es widerstrebte mir, daran zu denken, dass Kindern solche Grausamkeiten angetan wurden, obwohl ich auf dem Land Dinge gesehen hatte, die ich lieber vergessen hätte. Aber es war Louisas Einstellung zu diesen Kindern, die mich erschütterte.
Ich war entschlossen, nach dem Verlassen des Geschäftes alle noch vorhandenen Veilchen des kleinen Mädchens zu kaufen. Bis Louisa jedoch die Schneiderin dazu überredet hatte, ihr zu versprechen, das neue Kleid bis zum Wochenende zu liefern, und wir endlich den Laden verlassen konnten, war das Kind verschwunden.
Ich schaute mich nach ihm um und hörte die Modistin mit meiner Cousine reden. Ich fing nur wenige Worte auf: „Zahlung überfällig ... etwas auf Rechnung ... jetzt seit drei Monaten ..."
Mit einem Blick brachte Louisa die Schneiderin zum Verstummen, und schweigend fuhren meine Cousine und ich zu unserem nächsten Ziel. Beim Verlassen des Ladens, in dem ich einen Schal erstanden hatte, wurde Louisa von ihrer besten Freundin begrüßt. Miss Gloria Hefferton hatte sie seit mehr als einer Woche nicht besucht, weil ihre Mutter krank gewesen war. Sie ignorierte
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