Walzer der Liebe
ich aus dem Fenster blicken und über den mysteriösen Brief sowie über meine Lage nachdenken konnte.
Ich war einen Monat zuvor in London eingetroffen. Wie hatte ich mir in dieser Zeit jemanden zum Feind machen können, noch dazu jemanden, der zugab, etwas Abträgliches über meine Familie zu wissen? Bei meiner Ankunft in der Stadt hatte ich niemanden gekannt, nicht einmal meine Tante Lavinia, die verwitwete Lady Moreston, und ihre beiden Stiefkinder, den derzeitigen Viscount und dessen jüngere Schwester Louisa. Natürlich hatte ich im vergangenen Monat bei Gesellschaften, Spaziergängen im Park oder bei Einkäufen in der Bond Street viele Leute getroffen, und auch wenn ich meine Tante bei Besuchen begleitete, lernte ich ständig neue Gesichter kennen. Konnte einer dieser Menschen eine solche Abneigung gegen mich gefasst haben, dass er oder sie sich veranlasst gesehen hatte, mir diesen abscheulichen Brief zu schicken? Ich hätte eher gesagt, die meisten dieser Leute stünden mir so gleichgültig gegenüber, dass sie Schwierigkeiten hätten, sich an meinen Namen zu erinnern.
Aber nein! dachte ich plötzlich. Das war nicht die Tat eines Mannes. Anonyme Briefe passten besser zu einer Frau. Eine Frau neigte eher dazu, falsch und hinterlistig zu sein und sich dieses Mittels zu bedienen, um unerkannt zu bleiben und nicht Gefahr zu laufen, die Konsequenzen ihres Handelns tragen zu müssen.
Aber wer konnte etwas über meine Familie wissen, sei es nun nachteilig oder nicht? Ich hatte niemanden aus Yorkshire getroffen. Ich stellte nicht in Abrede, dass ich eine Landpomeranze bin. Das wusste ich nur zu gut. Aber wer glaubte, ich würde mich eingebildet benehmen? Ich war der Annahme, mich so züchtig betragen zu haben wie jede andere junge Dame, die in dieser Saison debütiert hatte, sogar noch sittsamer als meine Cousine Louisa, die wegen ihrer Oberflächlichkeit leicht den Unmut anderer erregte.
Ich schaute über den Tisch zu ihr hin. Sie war von ihrer Lektüre in Bann geschlagen, tunkte geistesabwesend ein Brötchen in ihre Kaffeetasse, schnappte nach Luft und ließ es fallen. Ich musste lächeln. Offenbar befand die Heldin ihres Romans sich wieder in einer misslichen Lage, über die ich spätestens in zehn Minuten - sobald Louisa sich von der Geschichte losreißen konnte - detailliert informiert würde. Entschlossen, dieser langatmigen Schilderung zu entrinnen, raffte ich meine Briefe zusammen und stand auf. Ich verabscheue Inhaltsangaben insbesondere von Büchern, die zu lesen ich nicht die Absicht habe.
An der Tür des Frühstückszimmers blieb ich stehen und sagte: „Vergiss nicht, dass die Kutsche für mittags bestellt ist, Louisa."
Sie machte eine unwillige Geste, als wollte sie eine Fliege verscheuchen, und ich überließ sie ihrem Roman.
In der Halle begegnete ich Mr. Hibbert, dem Butler. Er mochte mich ebenso wenig wie ich ihn und verbeugte sich auch nur knapp. Schrecklicher Mensch, dachte ich, während ich an ihm vorbei die Treppe hinaufging. Dann überlegte ich, ob man ihm als Kind das Schreiben beigebracht haben mochte. Von allen Menschen in London war wahrscheinlich er der Einzige, der bösartige Gedanken über mich hegte.
Unsere Antipathie hatte an eben dem Abend begonnen, an dem ich in der Stadt angekommen war.
Nach der langen Fahrt von North Yorkshire fühlte ich mich völlig zerschlagen und müde.
Als Anstandsdame und Begleiterin hatte die einstige Gouvernante einer Nachbarsfamilie fungiert. Miss Angela Wardell, die in dieser Stellung nicht mehr benötigt wurde, war mit einem überschwänglichen Empfehlungsschreiben fortgeschickt worden, um sich eine neue Position zu suchen.
Es war keine angenehme Reise gewesen. Miss Wardell war von ihrem Unglück überwältigt gewesen und hatte leise in ihrer Ecke des Wagens geweint. Obwohl ich natürlich Mitleid mit ihr hatte, war sie mir nicht sonderlich sympathisch. Überdies litt sie an einer schlimmen Erkältung und schniefte pausenlos, wodurch meine Geduld arg strapaziert wurde.
Dennoch setzte ich mich für sie ein, als Hibbert versuchte, sie aus dem Haus zu schicken, und bestand darauf, dass sie in Moreston House übernachten durfte. In Anbetracht der späten Stunde hätte sie kaum eine andere Unterkunft gefunden, selbst wenn meinem Kutscher geläufig gewesen wäre, welche respektable Herberge ihr Quartier geboten hätte. Er hatte sein Leben in Yorkshire zugebracht und befand sich zum ersten Mal in der Hauptstadt. Ich hatte gemerkt, dass er es kaum
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