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Wanderer, Kommst Du Nach Spa ... Großdruck

Wanderer, Kommst Du Nach Spa ... Großdruck

Titel: Wanderer, Kommst Du Nach Spa ... Großdruck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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waren die Schreie eines Kindes.
    »Ruhig, ruhig«, sagte der Arzt, ein junger mit einem studentischen Kragen, blondem Haar und einem nervösen Gesicht. Er sah zur Uhr: es war acht Uhr, und er müßte eigentlich längst abgelöst sein. Schon über eine Stunde wartete er vergebens auf Dr. Lohmeyer, aber vielleicht hatten sie ihn verhaftet; jeder konnte heute jederzeit verhaftet werden. Der junge Arzt zückte automatisch sein Hörrohr, er hatte den Jungen auf der Bahre ununterbrochen angesehen, jetzt erst fiel sein Blick auf die Träger, die ungeduldig wartend an der Tür standen; er fragte ärgerlich: »Was ist los, was wollen Sie noch?«
    »Die Bahre«, sagte der Fahrer, »kann man ihn nicht umbetten? Wir müssen schnell weg.«
    »Ach, klar, hier!« Der Arzt deutete auf das Ledersofa. In diesem Augenblick kam die Nachtschwester, sie sah gleichgültig, aber ernst aus. Sie packte den Jungen oben an den Schultern, und einer der Träger, nicht der Fahrer, packte ihn einfach an den Beinen. Das Kind schrie wieder wie irrsinnig, und der Arzt sagte hastig: »Still, ruhig, ruhig, wird nicht so schlimm sein …«
    Die Träger warteten immer noch. Dem gereizten Blick des Arztes
    antwortete wieder der eine. »Die Decke«, sagte er ruhig. Die Decke gehörte ihm gar nicht, eine Frau auf der Unfallstelle hatte sie hergegeben, weil man doch den Jungen mit diesen kaputten Beinen nicht so ins Krankenhaus fahren konnte. Aber der Träger meinte, das Krankenhaus würde sie behalten, und das Krankenhaus hatte genug Decken, und die Decke würde der Frau doch nicht wiedergegeben, und dem Jungen gehörte sie ebensowenig wie dem Krankenhaus, und das hatte genug. Seine Frau würde die Decke schon sauber kriegen, und für Decken gaben sie heute eine Menge.
    Das Kind schrie immer noch! Sie hatten die Decke von den Beinen gewickelt und schnell dem Fahrer gegeben. Der Arzt und die Schwester blickten sich an. Das Kind sah gräßlich aus: Der ganze Unterkörper schwamm in Blut, die kurze Leinenhose war völlig zerfetzt, die Fetzen hatten sich mit dem Blut zu einer schauerlichen Masse vermengt. Die Füße waren bloß, und das Kind schrie beständig, schrie mit einer furchtbaren Ausdauer und Regelmäßigkeit.
    »Schnell«, flüsterte der Arzt, »Schwester, Spritze, schnell, schnell!« Die Schwester hantierte sehr geschickt und flink, aber der Arzt flüsterte immer wieder: »Schnell, schnell!« Sein Mund klaffte haltlos in dem nervösen Gesicht. Das Kind schrie unablässig, aber die Schwester konnte einfach die Spritze nicht schneller fertigmachen.
    Der Arzt fühlte den Puls des Jungen, sein bleiches Gesicht zuckte vor Erschöpfung. »Still«, flüsterte er einige Male wie irr, »sei doch still!« Aber das Kind schrie, als sei es nur geboren, um zu schreien. Dann kam die Schwester endlich mit der Spritze, und der Arzt machte sehr flink und geschickt die Injektion.
    Als er die Nadel seufzend aus der zähen, fast ledernen Haut zog, öffnete sich die Tür, und eine Nonne trat schnell und erregt ins Zimmer, aber als sie den Verunglückten sah und den Arzt, schloß sie den Mund, den sie geöffnet hatte, und trat langsam und still näher. Sie nickte dem Arzt und der blassen Laienschwester freundlich zu und legte dem Jungen die Hand auf die Stirn. Das Kind schlug die Augen ganz senkrecht auf und blickte erstaunt auf die schwarze Gestalt zu seinen Häupten. Es schien fast, als beruhige es sich durch den Druck der kühlen Hand auf seiner Stirn, aber die Spritze wirkte jetzt schon. Der Arzt hielt sie noch in der Hand, und er seufzte noch einmal tief auf, denn es war jetzt still, wunderbar still, so still, daß alle ihren Atem hören konnten. Sie sagten kein Wort.
    Das Kind spürte wohl keine Schmerzen mehr, ruhig und neugierig blickte es um sich.
    »Wieviel?« fragte der Arzt die Nachtschwester leise.
    »Zehn«, antwortete sie ebenso.
    Der Arzt zuckte die Schultern. »Bißchen viel, mal sehen. Helfen Sie uns ein wenig, Schwester Lioba?«
    »Gewiß«, sagte die Nonne hastig und schien aus tiefem Brüten aufzuschrecken. Es war sehr still. Die Nonne hielt den Jungen an Kopf und Schultern, die Nachtschwester an den Beinen, und sie zogen ihm die blutgetränkten Fetzen ab. Das Blut hatte sich, wie sie jetzt sahen, mit etwas Schwarzem gemischt, alles war schwarz, die Füße des Jungen waren voll Kohlenstaub, auch seine Hände, alles war nur Blut, Tuchfetzen und Kohlenstaub, dicker, fast öliger Kohlenstaub.
    »Klar«, murmelte der Arzt, »beim Kohlenklauen vom fahrenden

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