Wanderer, Kommst Du Nach Spa ... Großdruck
Gelächter der ganzen Klasse schlich ich wie ein geprügelter Hund auf meinen Platz zurück, nun unfähig, mich wieder in das Reich der Träume zu begeben, in endloser Qual auf das Klingelzeichen wartend …
Längst schon waren wir groß, längst waren meine Träume schmerzlicher geworden, längst schon mußte er »Sie« sagen, »Sie, Besenbinder, Sie«, und es gab martervolle lange Monate, in denen keine Kreise zu ziehen waren, sondern ich nur vergeblich zu versuchen verpflichtet war, das spröde Gebälk algebraischer Brücken zu überklettern, und immer schleppte ich die Fünf hinter mir her, immer noch wurde die längst gewohnte Zeremonie vollführt. Doch als wir uns dann freiwillig melden mußten, um Offiziere zu werden, wurde eine schnelle Prüfung anberaumt, eine leichte Prüfung und doch eine Prüfung, und mein völlig hilfloses Gesicht vor der amtlichen Strenge des Schulrates mochte den Lehrer außergewöhnlich milde gestimmt haben, denn er sagte mir so viel und so geschickt vor, daß ich glatt bestand. Nachher aber, als die Lehrer uns zum Abschied die Hände drückten, riet er mir, keinen Gebrauch von meinen mathematischen Kenntnissen zu machen und mich keinesfalls einer technischen Truppe anzuschließen. »Infanterie«, flüsterte er mir zu,
»gehen Sie zur Infanterie, dorthin gehören alle – Besenbinder …«, und zum letzten Male knuffte er andeutungsweise mit einer versteckten Zärtlichkeit meinen ohnehin trainierten Schädel …
Kaum zwei Monate später hockte ich auf dem Flugplatz von Odessa in tiefem Schlamm über meinem Tornister und sah einem wirklichen Besenbinder zu, dem ersten, den ich je sah …
Es war früh Winter geworden, und der Himmel über der nahen Stadt hing grau und trostlos zwischen den Horizonten. Düstere hohe Gebäude waren zwischen Vorstadtgärten und schwarzen Zäunen sichtbar. Dort, wo das Schwarze Meer sein mußte, war der Himmel
noch dunkler, von einem fast bläulichen Schwarz, und es schien fast, als komme die Dämmerung und der Abend von Osten. Irgendwo im Hintergrund wurden die rollenden Ungeheuer vollgetankt an düsteren Schuppen, rollten langsam wieder zurück und ließen sich in schauerlicher Gemütlichkeit volladen mit Menschen, grauen, müden und verzweifelten Soldaten, in deren Augen kein anderes Gefühl mehr zu lesen war als das der Angst – denn lange schon war die Krim eingeschlossen …
Unser Zug mußte einer der letzten sein, alle schwiegen und
fröstelten, trotz der langen Mäntel. Manche aßen verzweifelt, andere rauchten entgegen dem Verbot, indem sie ihre Pfeifen mit der Handfläche bedeckten und den Rauch langsam und dünn ausstießen …
Ich hatte Muße genug, den Besenbinder zu beobachten, der dort an einem Gartenzaun saß. Er trug eine jener abenteuerlichen Russenmützen, und in seinem bärtigen Gesicht war die kurze braune Stummelpfeife ebenso dick und lang wie die Nase. Aber Ruhe und Einfalt waren in den still arbeitenden Händen, die nach den Bündeln ginsterartigen Gestrüpps griffen, sie schnitten, mit Drähten umbanden und dann die fertigen Büschel in den Löchern des Besenhalters befestigen …
Ich hatte mich umgewandt und lag fast bäuchlings auf meinem Tornister, und ich sah nur die riesige Silhouette dieses stillen armen Mannes, der ohne Hast und mit liebevollem Fleiß seine Besen band. Niemals in meinem Leben hab ich jemanden so beneidet wie diesen Besenbinder, nicht den Primus, nicht die Mathematikleuchte Schimski, nicht den ersten Fußballspieler der Schulmannschaft, nicht einmal Hegenbach, dessen Bruder Ritterkreuzträger war; keinen von allen hatte ich je so beneidet wie diesen Besenbinder, der am Rande von Odessa saß und unbehelligt seine Pfeife rauchte.
Es war mein geheimer Wunsch, einen Blick des Mannes
einzufangen, denn es dünkte mich, es müsse tröstlich sein, mitten hineinzublicken in dieses Gesicht, aber ich wurde plötzlich am Mantel hochgerissen, angeschnauzt und in die brummende Maschine gezwängt, und als wir gestartet waren und nun hochflogen über das erregende Gewirr von Gärten und Straßen und Kirchen, wäre es unmöglich gewesen, nach dem Besenbinder zu suchen.
Ich hatte mich erst auf meinen Tornister gehockt, war dann
rückwärts gesunken und lauschte nun, betäubt von dem erdrückenden Schweigen der Schicksalsgenossen, den seltsam drohenden Geräuschen des fliegenden Schiffes, während mein Kopf an der metallenen Wand von den stetigen Erschütterungen zu zittern begann. In der Dunkelheit des engen
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