Wanderer, Kommst Du Nach Spa ... Großdruck
Zug gestürzt, was?«
»Ja«, sagte der Junge mit brüchiger Stimme, »klar.«
Seine Augen waren wach, und es war ein seltsames Glück darin. Die Spritze mußte herrlich gewirkt haben. Die Nonne zog das Hemd ganz hoch und rollte es auf der Brust des Jungen zusammen, oben unter dem Kinn. Der Oberkörper war mager, lächerlich mager wie der einer älteren Gans. Oben am Schlüsselbein waren die Löcher seltsam dunkel beschattet, große Hohlräume, worin sie ihre ganze weiße, breite Hand hätte verbergen können. Nun sahen sie auch die Beine, das, was von den Beinen noch heil war. Sie waren ganz dünn und sahen fein aus und schlank. Der Arzt nickte den Frauen zu und sagte:
»Wahrscheinlich doppelte Fraktur beiderseits, müssen röntgen.«
Die Nachtschwester wusch mit einem Alkohollappen die Beine sauber, und dann sah es schon nicht mehr so schlimm aus. Das Kind war nur so gräßlich mager. Der Arzt schüttelte den Kopf, während er den Verband anlegte. Er machte sich jetzt wieder Sorgen um Lohmeyer, vielleicht hatten sie ihn doch geschnappt, und selbst wenn er nichts ausplaudern würde, es war doch eine peinliche Sache, ihn sitzenzulassen wegen dem Strophanthin und selbst in Freiheit zu sein, während man im anderen Falle am Gewinn beteiligt gewesen wäre. Verdammt, es war sicher halb neun, und es war so unheimlich still jetzt, auf der Straße war nichts zu hören. Er hatte den Verband fertig, und die Nonne zog das Hemd wieder herunter bis über die Lenden. Dann ging sie zum Schrank, nahm eine weiße Decke heraus und legte
sie über den Jungen.
Die Hände wieder auf der Stirn des Jungen, sagte sie zum Arzt, der sich die Hände wusch: »Ich kam eigentlich wegen der kleinen Schranz, Herr Doktor, ich wollte Sie nur nicht beunruhigen, während Sie den Jungen hier behandelten.«
Der Arzt hielt im Abtrocknen inne, sein Gesicht verzerrte sich ein wenig, und die Zigarette, die an der Unterlippe hing, zitterte.
»Was«, fragte er, »was ist denn mit der kleinen Schranz?« Die Blässe in seinem Gesicht war jetzt fast gelblich.
»Ach, das Herzchen will nicht mehr, es will einfach nicht mehr, es scheint zu Ende zu gehen.«
Der Arzt nahm die Zigarette wieder in die Hand und hängte das Handtuch an den Nagel neben dem Waschbecken.
»Verdammt«, rief er hilflos, »was soll ich da tun, ich kann doch nichts tun!«
Die Nonne hielt die Hand immer noch auf der Stirn des Jungen. Die
Nachtschwester versenkte die blutigen Lappen in dem Abfalleimer, dessen Nickeldeckel flirrende Lichter an die Wand malte.
Der Arzt blickte nachdenklich zu Boden, plötzlich hob er den Kopf, sah noch einmal auf den Jungen und stürzte zur Tür: »Ich seh mir's mal an.«
»Brauchen Sie mich nicht?« fragte die Nachtschwester hinter ihm her; er steckte den Kopf noch einmal herein: »Nein, bleiben Sie hier, machen Sie den Jungen fertig zum Röntgen und versuchen Sie schon, die Krankengeschichte aufzunehmen.«
Das Kind war noch sehr still, und auch die Nachtschwester stand jetzt neben dem Ledersofa.
»Weiß deine Mutter Bescheid?« fragte die Nonne.
»Ist tot.«
Die Schwester wagte nicht, nach dem Vater zu fragen.
»Wen muß man benachrichtigen?«
»Meinen älteren Bruder, aber der ist jetzt nicht zu Hause. Doch die Kleinen müßten es wissen, die sind jetzt allein.«
»Welche Kleinen denn?«
»Hans und Adolf, die warten ja, bis ich das Essen machen komme.«
»Und wo arbeitet dein älterer Bruder denn?«
Der Junge schwieg, und die Nonne fragte nicht weiter.
»Wollen Sie schreiben?«
Die Nachtschwester nickte und ging an den kleinen weißen Tisch, der mit Medikamenten und Reagenzgläsern bedeckt war. Sie zog das Tintenfaß näher, tauchte die Feder ein und glättete den weißen Bogen mit der linken Hand.
»Wie heißt du?« fragte die Nonne den Jungen.
»Becker.«
»Welche Religion?«
»Nix. Ich bin nicht getauft.«
Die Nonne zuckte zusammen, das Gesicht der Nachtschwester blieb
unbeteiligt.
»Wann bist du geboren?«
»33 … am zehnten September.«
»Noch in der Schule, ja?«
»Ja.«
»Und.. .den Vornamen!« flüsterte die Nachtschwester der Nonne zu.
»Ja.. .und der Vorname?«
»Grini.«
»Wie?« Die beiden Frauen blickten sich lächelnd an.
»Grini«, sagte der Junge langsam und ärgerlich wie alle Leute, die einen außergewöhnlichen Vornamen haben.
»Mit i?« fragte die Nachtschwester.
»Ja, mit zwei i«, und er wiederholte noch einmal: »Grini.«
Er hieß eigentlich Lohengrin, denn er war 1933 geboren, damals, als die
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