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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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verstellte seine Stimme, sprach betont männlich, »Wenn schon, denn schon. Ein übergewichtiger Nichtraucher kommt genauso wenig infrage wie ein Kette rauchender Läufer. Mein Gott …« Theatralisch schlug er sich seine Hände vors Gesicht. Mein mittlerer Bruder hatte die Finger dieser Hände, die Vaterfinger, einmal Wurstfinger genannt. Das war für ihn eine solche Kränkung, dass er es bis zu seinem Tod nicht vergaß und immer wieder sagte: »Ich hab doch keine Wurstfinger, oder?«
    Er saß da, an seinem Geburtstagsfrühstücksplatz, und tat vollkommen erschüttert: »Oh mein Gott …«, wiederholte er, »ich werde heute vierzig! Vierzig! Als ich so alt war wie ihr«, er sah meine Brüder und mich liebevoll an, »da waren alle Vierzigjährigen für mich Tattergreise.«
    Mein blitzgescheiter mittlerer Bruder war ein Revolverheld der ansatzlos aus der Hüfte abgefeuerten Sätze. Kaum einer zog schneller als er. So auch jetzt: »Korrekte Einschätzung, Papa! Jung ist was anderes! Noch vor hundert Jahren sind die meisten Menschen in deinem Alter gestorben. Da wärst du statistisch betrachtet sogar schon leicht überfällig.« Mein Vater nickte: »Na danke. Aber es stimmt, dies ist meine letzte Chance, noch etwas zu verändern.«
    Ich mochte den Bauch meines Vaters. Wenn wir zusammen an der Ostsee waren, lag mein Vater auf dem Rücken in der Sonne und tat das, was er immer tat, wenn er nicht aß, er las. Ich liebte es, am Strand nach Donnerkeilen und rund gespülten Glasscherben zu suchen. Ich wollte nie gehen. »Bitte, bitte«, bettelte ich ihn an, »noch einen Bauchnabel voll.« Wenn er einwilligte, holte ich vom Meer mit meinen zu einer tröpfelnden Schale geformten Händen Wasser und füllte seinen tief liegenden Nabel damit voll. Ich durfte dann noch so lange bleiben, bis das Wasser verdunstet war. Von weit weg rief ich: »Ist noch was drin?« Er steckte seinen Zeigefinger in den Bauch: »Jaaa, hast noch Zeit.« Durch den nun angedrohten Gewichtsverlust sah ich meine kostbare Strandzeit in Gefahr.
    Während ich über das Wasser im Nabel nachdachte, fiel mir die Salamischeibe vom Brötchen und unser Hund schnappte sie sich blitzschnell. Mein Vater tat das, was er immer tat, wenn ich mich in einen meiner Tagträume verabschiedet hatte. Er schnipste nah vor meinen stierenden Augen mit den Fingern. Mein ältester Bruder hatte mich in diesem Zustand sogar schon fotografiert. Das Bild hatte mich befremdet: Ich sah aus wie ein Blinder.
    »So, und nun möchte ich im Kreis meiner Familie meine letzte Zigarette rauchen.« Er zündete sie an und zog den Rauch tief ein. »Und, schmeckt sie irgendwie besonders?«, fragte ich. »Allerdings, mein Lieber!«, antwortete mein Vater, »durch einen unglaublichen Zufall habe ich für meine letzte Zigarette die köstlichste Roth-Händle, die je auf diesem Erdball gewachsen, geerntet, gedreht und verkauft worden ist, erwischt. So eine gute hatte ich noch nie.« Er blies den Rauch aus und zog wieder. Wir sahen ihm stumm dabei zu. »Und nun mein letzter Zug.«
    Da gab es einen Knall.
    Im ersten Moment dachte ich, mein Vater würde explodieren. Hatte er sich mit seiner letzten Zigarette selbst in die Luft gesprengt? Den Bruchteil einer Sekunde zuvor war ein Schatten über meinen Teller hinweggehuscht. Mein Vater spuckte vor Schreck die finale Roth-Händle auf die Tischdecke, meine Mutter gab einen eigenartigen Laut von sich, so als würde ihr jemand die Gurgel zudrücken, der Hund neben mir sprang auf, stieß sich lefzenschlabbernd den Kopf unter der Tischkante, und auch meine Brüder und ich zuckten zusammen, warfen uns auf unseren Stühlen zurück.
    Gegen die Fensterfront des Wohnzimmers war ein Vogel geflogen. Das war schon öfter passiert, doch noch nie beim Frühstück, noch nie zuvor mit solchem Kawumm in eine erwartungsvolle Stille hinein.
    Die Glut hüpfte von der Zigarette und lag glimmend auf der Tischdecke. Meine Brüder und meine Mutter sprangen auf und liefen zur Scheibe. Ich starrte auf die Glut. Mein Vater sah mich an. Sein eines Augenlid hing ein wenig. Sein »Gottfried-Benn-Auge« nannte er es. Er tat etwas, das mich tief beeindruckte, das ich ihn noch nie hatte tun sehen. Er leckte seinen kleinen Finger an und berührte damit die glühende Zigarettenasche. Sie blieb an seinem Finger kleben. Er hielt ihn in die Höhe: gelb-oranger Lichtpunkt balanciert auf speichelnasser Fingerkuppe. Er zeigte ihn mir. Mein mittlerer Bruder rief zu uns hinüber: »Eine Amsel!« Ich drehte

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