Waren Sie auch bei der Krönung?
verblieben war. Ein richtiges, ordentliches Mahl in einem Zug zu bekommen, der mit einer Geschwindigkeit von mehr als anderthalb Kilometern in der Minute durch die Landschaft brauste, während es noch hell genug war, um hinauszusehen — das allein war ein Genuß. Aber sich dessen an einem eigenen Tisch erfreuen zu dürfen, unbeaufsichtigt, unbeobachtet, unbeschränkt, so daß dem Flug seiner Phantasie keine Grenze gesetzt war — das war zu schön, um wahr zu sein!
Der Speisewagen bestand aus Tischen für vier Personen auf der einen Seite und kleineren Tischchen auf der gegenüberliegenden Seite des engen Ganges, durch den die Kellner hin und her eilten. Sie vollbrachten dabei mit ihren Tabletts voll Speisen und Getränken die unglaublichsten akrobatischen Kunststücke.
Welch ein Glück! Der Tisch für zwei Personen gegenüber jenem, an dem sich die Claggs — Mami und Vati, Gwenny und Oma — niedergelassen hatten, war besetzt. Aber etwas weiter hinten gab es noch einen leeren Zweiertisch, und hier setzte sich Johnny in Fahrtrichtung nieder, den Rücken der Familie zugekehrt und so in glücklichster Weise weder in ihrer direkten Blickrichtung noch in greifbarer Nähe.
Aber fast hätte dieser wunderbare Moment, dieser unerwartete Glücksfall ein jähes Ende gefunden. Natürlich mußte sich die Großmutter wieder wichtig machen! Johnny hatte sich kaum gesetzt und die Speisekarte in die Hand genommen, als über dem Ram-tata-tam und Klickety-klick der Räder ihre zänkische Stimme ertönte: «Darf der Junge dort ganz allein sitzen, Will?» Er hörte seine Mutter sagen: «Ich weiß wirklich nicht, Großmutter.» Die Antwort seines Vaters konnte er nicht verstehen, aber das Zetern der Großmutter ging weiter.
Er hatte gehofft, das Mahl als Major John Clagg vom Königlichen Wessex-Regiment, Träger des Militärkreuzes und Verdienstordens genießen und wunderbare Träume ersinnen zu können. Aber diese schillernde Seifenblase drohte zu platzen. Klickety-klack sangen die Räder. Die braun-uniformierten Hüften eines Kellners huschten mit einer Geschwindigkeit, die die des Zuges beinahe überstieg, an seinem Kopf vorbei. «Sollte ich mich nicht zu ihm setzen?» tönte die beharrliche Stimme der Großmutter herüber.
Der junge Johnny schloß die Augen und biß sich auf die Lippen. Er ballte die Hände zu heißen, schwitzenden Fäusten, die Fingernägel bohrten sich in die Handflächen — und er suchte durch einen ungeheuren Willensakt zu verhindern, daß es geschähe. O bitte, laß Oma nicht gegenüber sitzen! Ihr Mund rundete sich zu einem kleinen, mißbilligenden , das Major Clagg für immer vernichtete und ihn zu jenem Johnny Clagg zusammenschrumpfen ließ, der zu jung war, allein zu sitzen.
Da erschienen ein Schatten und der Knopf einer pfeffer-und-salz-farbenen Tweed-Jacke vor seinen Augen, und eine tiefe Stimme polterte: «Ist der Sitz belegt, junger Mann?»
«Nein, Sir! Bitte nehmen Sie nur Platz!» antwortete Johnny mit einem so ernsthaft beschwörenden und einladenden Tonfall, daß der Mann erstaunt auf ihn niedersah.
Der Besitzer der Stimme war außerordentlich groß, und sein völlig kahler Schädel war von einer ganz verwunderlich rosa Farbe. Sein Gesicht glich altem, vergilbtem Pergament, aber darin saßen, von Hunderten feinen, winzigen Runzeln umgeben, ungemein jugendliche und durchdringend hellblaue Augen. Seine schneeweißen Augenbrauen waren buschig und aggressiv, und sein Schnurrbart hatte die gelbliche Farbe noch nicht ganz verloren.
«Nun», sagte der Herr, «das ist sehr freundlich und liebenswürdig von dir, mein Junge. Danke!» Und damit setzte er sich mit der graziösen Behendigkeit eines Sportlers auf den Platz gegenüber.
Einen Moment lang empfand Johnny ein geradezu schwindelerregendes Gefühl der Erleichterung und glaubte fast, in Ohnmacht zu fallen. Obwohl er am Hinterkopf keine Augen hatte, wußte er haargenau, daß sich die Großmutter drüben auf der andern Seite des Ganges halb von ihrem Platz erhoben hatte, um herüberzukommen und ihre Drohung auszuführen. Dafür war es nun zu spät. Major Clagg war gerettet.
Es war eine unvergeßliche Mahlzeit. Schon die Speisekarte führte ihn in eine völlig andere Welt ein, eine Welt, in der man wählen konnte. Potage — was immer das Wort bedeuten mochte — , Grapefruit oder Tomatensaft verkündete die mit Suppenflecken gezierte Karte. Scholle, irgendeine Sauce, ein Wort aus einer Fremdsprache. Und dann konnte man sich in aller Muße
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