Warten auf den Monsun
nicht doch eine große Flasche Wasser mitgenommen hatte. Den Hügel hinabzufahren war herrlich gewesen, sein Hemd und seine Haare flatterten bei dem hohen Tempo. Er sauste an den Reihen der Eimer und Tassen vorbei, an dem verrosteten Verkehrsschild unten am Pfad, von dem er nicht wußte, daß es ein Vorfahrtsschild war, und überquerte, ohne nach links und rechts zu sehen, die Straße. Der Fahrer des LKW , der gerade mit einer Ladung Wassermelonen um die Kurve tuckerte, verfluchte ihn, ohne daß er es hörte. Er begriff sich selbst nicht mehr, aber seit dem Moment, als sie ihm die Tür geöffnet und die Augen wegen des gleißenden Sonnenlichts zugekniffen hatte, war er verloren gewesen. Nicht nur wegen ihrer Schönheit. Da war mehr gewesen, als er ihren Duft wahrnahm, ihre Stimme hörte, sie sah. Er mußte fester in die Pedale treten, denn der Hügel war in ein Stück gerader Straße übergegangen, die in die Stadt führte. Um alle Häuser und Hütten standen Kübel und Schüsseln. Die Tropfen, auf die jeder wartete, erschienen auf seiner Stirn, und sein Atem ging schneller. Er würde das Geld für seine Arbeit einsammeln und die Stadt verlassen. Er mußte fort sein, ehe der Monsun losbrach und die Straßen überschwemmte. Auch wenn ihn eine Leidenschaft ergriffen hatte, die heftiger und glühender war als alles, was er bisher erlebt hatte, durfte er nicht das Unmögliche wollen. Nicht er. Er mußte sie vergessen. So wie er alles aus der Vergangenheit vergessen hatte.
1954
Grand Palace
Die Fensterläden sind geschlossen, der Maharadscha und die Maharani sitzen schweigend nebeneinander. Ihre vormals edlen, jugendlichen Gesichtszüge sind vom Kummer gezeichnet.
Sie reden nur noch selten miteinander, und wenn sie etwas sagen, beginnt jeder Satz mit »Hätten wir doch …«. Die Gänge des Palastes sind leer, und wenn ein Diener hindurchgeht, hält er den Kopf tief gesenkt und vermeidet jedes Geräusch. Die Gemälde im großen Saal sind mit schweren, schwarzen Tüchern verhängt, und die Springbrunnen sprudeln nicht mehr. Auch die Vögel, die sich gern auf der Veranda der Zenana aufhielten, lassen sich nicht mehr sehen. Wie die Frauen, die sich in separate Zimmer zurückgezogen haben oder ganz fortgegangen sind, um der Trauerstimmung zu entfliehen. Das Bett, in dem Madan bis zu seinem Verschwinden schlief, steht jetzt im Zimmer der Maharani, sie schläft jede Nacht darin, obwohl es für sie zu klein ist. Der Arzt hat ihr gesagt, sie werde dadurch auf Dauer krumm, aber die Worte des Arztes interessieren sie nicht. Mehr noch, sie will das Wort »Arzt« nie mehr hören. Ihre Tochter Chutki ist in ein Dorf am Rand der Großen Indischen Wüste in Rajasthan verbannt worden. Die beiden Krankenschwestern, die schon lange Jahre im Dienst der Fürstenfamilie gestanden hatten, wurden ohne Gerichtsverfahren ins Gefängnis geworfen – wo sie bis zu ihrem Tod bleiben werden, denn alle haben sie vergessen. Wie den Chauffeur, der schon nach zwei Monaten starb, weil er aus Reue keinen Bissen mehr aß.
Die Hand des Maharadschas tastet unsicher zur schwarz behandschuhten Hand seiner Frau, die bei seiner Berührung erstarrt. Er muß mit ihr reden. Aus seinen Gebieten kommen Nachrichten, daß sich in der Bevölkerung Unmut regt – die Leute meinen, daß die strenge Trauer, die nun schon seit zwei Jahren angeordnet ist, ein Ende haben muß. Sie wollen, daß endlich der Kanal ausgeschachtet wird, die Frauen möchten wieder bunte Kleidung tragen, die Männer haben es satt, sich nicht rasieren zu dürfen, und Eltern wollen ihren neugeborenen Söhnen nicht mehr den Namen Madan geben müssen.
»Mutter meiner Kinder …«, hebt er an.
Seine Frau stößt einen Klagelaut aus. Ihre Dienerin eilt herbei und will neben ihr niederknien, aber der strenge Blick des Maharadschas hält sie davon ab.
»Es ist an der Zeit.«
Sie beginnt herzzereißend zu weinen. Ihre Schultern zucken, und sie verbirgt das Gesicht in den Händen. Die Dienerin zieht ein Spitzentaschentuch hervor und reicht es dem Maharadscha.
Unbeholfen schiebt er das Tüchlein seiner Frau in die Hand, die es sich ans Gesicht drückt. »Am ersten Tag des nächsten Monats verkünde ich das Ende der Trauer«, sagt er.
Sie schüttelt den Kopf und sinkt in sich zusammen. »Wir müssen ihn finden, das weißt du doch, ich habe ihn verflucht«, schluchzt sie.
Der Maharadscha unterdrückt einen Stoßseufzer, er hat genug vom Aberglauben seiner Frau. »Dann hebe den Fluch doch
Weitere Kostenlose Bücher