Warten auf den Monsun
auf der Rückbank, den Kopf auf dem Schoß seiner Schwester. Er sieht Charlotte an und lächelt noch immer, als die Tür zugezogen wird und der Wagen losfährt.
»Fahr vorsichtig!« blafft Chutki den Chauffeur an. Sie ist wütend auf ihn. Er war zuerst nicht aufzufinden, wie alle Inder saß er irgendwo gebannt vor einem Radio.
Als sie in die leere Straße einbiegen, die an dem großen Stadion vorbeiführt, öffnen sich genau in diesem Moment die Tore, und die euphorische Menschenmenge strömt heraus. »India sindabad! India sindabad!« skandieren alle. Zu Tausenden laufen sie über die Straße. Der Chauffeur sieht, daß kein Durchkommen ist, und beginnt ein Wendemanöver. Chutki befiehlt ihm jedoch, weiterzufahren. Der Wille der Tochter des Maharadschas ist Gesetz, also dreht der Chauffeur den Wagen wieder in die andere Richtung, doch das Meer von Menschen macht es unmöglich. Die Leute winken, jubeln und johlen. Sie tanzen, springen und singen. Sie lachen, schreien und rufen: »India sindabad! India sindabad!« Alle sind völlig aufgedreht, Indien hat Pakistan besiegt! Ein Mann mit einem Turban in den Farben der indischen Flagge, safran, weiß und grün, schlägt fröhlich mit flachen Händen auf das Dach des Rolls-Royce. Obwohl der Wagen gut isoliert ist, dröhnt es im Innern furchterregend. Der Chauffeur beginnt zu hupen. Mehr Leute hören die Schläge auf das Metall und machen mit. »India sindabad! India sindabad!«
»Sag ihnen, sie sollen aufhören!« kreischt Chutki.
Die kleine Krankenschwester kurbelt das Fenster herunter, das ohrenbetäubende Johlen dringt ins Auto. Sie versucht die Männer zu stoppen, aber die beachten sie gar nicht.
Der Chauffeur sieht im Spiegel, daß Chutki in Panik gerät. Er steigt aus und fordert die Männer auf, damit aufzuhören.
»India sindabad! India sindabad!« trommeln sie weiter aufs Autodach.
»Sie sollen aufhören!« kreischt Chutki. Sie zieht ihre Jacke fest um sich, öffnet die Tür und springt raus.
Auch die Krankenschwestern steigen aus, mehr um Chutki zu beschützen, als um die Männer zur Besinnung zu bringen.
Der kleine Junge sieht sich entgeistert um. Der Hals tut ihm weh, aber das Geschrei der Männer ist so beeindruckend, daß er sich hinsetzt und durchs offene Fenster hinausschaut.
»India sindabad! India sindabad!« ruft ein Mann ins Auto und winkt Madan zu.
Der kleine Kerl hebt die Hand und winkt zurück.
»Komm tanzen!« ruft der Mann und zieht die Wagentür auf.
Der Junge rappelt sich hoch und rutscht von der Rückbank. Vorsichtig klettert er aus dem Auto. Er breitet die Arme weit aus zu dem Mann, der mit ihm tanzen will. Er sieht seine Schwester, die mit ihrer blauen Jacke zwischen mehreren großen Männern steht. Auch sie hebt die Hände in die Luft.
»Ja, tanzen!« ruft der Mann. »Wir haben gesiegt!«
Auf seinen kleinen Beinen schwankt Madan hinter dem Mann her, wie seine Geschwister liebt auch er es, zu tanzen. Er liebt die großen Feste, die seine Eltern oft in den Sälen des Palastes geben. Der tanzende Mann vor ihm verschwindet in der Menge. Er taumelt hinterher. Madan Man Singh will mit ihm tanzen. Tanzen auf diesem Fest.
1995
Rampur
Der Mond schob sich unmerklich am wolkenlosen Himmel weiter. Es war nicht der Schrei der Eule oder das Gezirpe der Grillen, nicht die Hitze oder der Durst, nicht einmal die Ahnung, wer der Mann war, in den sie sich verliebt hatte. Es war die Frage, die sie ihrem Vater schon vor vielen Jahren hätte stellen sollen, die Charlotte vom Schlafen abhielt.
Sie lief barfuß zum Kinderzimmer und öffnete die Tür. Beim Licht des Mondes sah sie, daß ihr Vater ruhig auf dem schmalen Bett lag, bedeckt nur von den Gurten. Er war völlig klar im Kopf gewesen, als er die Vollmacht für den Verkauf unterschrieb – was dachte er wohl all die Male, wenn ihm bewußt wurde, daß sie ihn festgebunden hatten? Würde er es verstehen oder war gerade das der Grund für die vielen, heftigen Wutanfälle?
Er glänzte vom Schweiß, obwohl sich der Ventilator über ihm auf vollen Touren drehte. Das Moskitonetz schwebte wie eine Qualle über ihm. Die Angst, die sie oft ergriff, wenn sie sein Zimmer betrat, blieb aus. Wie könnte sie ihm die Frage stellen, wenn sogar ihre eigenen Erinnerungen langsam verblaßten, die Realität Platz gemacht hatte für die Sehnsüchte? Was würde es ändern, wenn sie es wußte? Würde es ihr Bild von ihm ändern? Würde sie ihm verzeihen können oder ihn hassen? Seine Finger bewegten
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