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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Vater las ihn laut vor und sagte, daß das Schwesterchen den Namen >Hortense< bekommen hatte. Immer wenn sie an jenes Ereignis dachte, hörte sie erneut den Klang dieses Namens in ihrer Erinnerung.
    Kurz nach der Untersuchung der Henris erschienen noch ein paar Berichte über ähnliche Studien. Der Amerikaner Colegrove hatte Interviews mit hundert überwiegend älteren Menschen durchgeführt und war ebenfalls zu dem Schluß gekommen, daß erste Erinnerungen überwiegend visueller Art sind. Es fiel ihm auf, daß Erinnerungen an Gerüche sehr selten sind, auch später im Leben. In einer Umfrage über frühe Erinnerungen bei hundert Studenten fand Elizabeth Bartlett Potwin dieselbe Überrepräsentation visueller Erinnerungen. Bei nahezu allen ersten Erinnerungen, stellte sie später noch fest, ist die Person selbst als diejenige in das Ereignis einbezogen, die etwas tat oder erlebte, und nicht als Zuschauer. Der Verdienst von Umfragen dieser Art liegt vor allem in der Inventarisierung und der Einteilung erster Erinnerungen in Rubriken. Auch die Henris bearbeiteten ihr Material nicht allzusehr, so daß wir nicht wissen, ob ein Gefühl wie Erstaunen vor allem bei frühen oder eher späten ersten Erinnerungen vorkommt oder wie sich die Häufigkeit erster Erinnerungen an bestimmte Ereignisse zur Häufigkeit dieser Ereignisse selbst verhält. Ebensowenig haben sie angegeben, ob junge Befragte von anderen oder früheren ersten Erinnerungen berichten als ältere Befragte. Wohl machten sie im Rahmen ihres Berichts zwei Feststellungen, die nicht ohne Einfluß bleiben sollten. Die erste war, daß viele Befragte in der Erinnerung sich selbst sahen. »Ich stehe am Meer, und meine Mutter zieht mich in ihre Arme: diese Szene sehe ich, als ob ich außen stünde.« Oder: »Ich sehe mich während der Krankheit als jemanden, der außerhalb meiner selbst ist.« »Man sieht sich als Kind«, schlußfolgern die Henris. »Man hat eine Vorstellung, in der ein Kind vorkommt, und weiß: Dieses Kind bin ich « Die zweite Feststellung war, daß nicht alle ersten Erinnerungen mit starken Gefühlen verbunden waren, bei dem ein oder anderen Vorfall war kaum zu verstehen, warum man sich an ihn erinnerte, während andere Ereignisse aus derselben Zeit, dem Anschein nach auch für Kinder viel beeindruckender, vollkommen vergessen waren. Ein Professor der Philologie schrieb, in einer seiner frühesten Erinnerungen stünde er bei einem gedeckten Tisch, auf dem sich eine Schale mit Eis befand. In derselben Zeit starb seine Großmutter. Seine Eltern sagten, das hätte ihn sehr durcheinandergebracht. Er erinnert sich an gar nichts. Nicht an die Beerdigung, nicht an die Trauer seiner Eltern, nur an die Eisschale.
    Diese beiden Beobachtungen des Ehepaars Henri weckten das Interesse eines Lesers in Wien.
    Der Unterschied zwischen >m< und >n<
    Folgendes Bild ist die erste Erinnerung eines vierundzwanzigjäh-rigen Mannes: »Er sitzt im Garten eines Sommerhauses auf einem Stiihlchen neben der Tante, die bemüht ist, ihm die Kenntnis der Buchstaben beizubringen. Die Unterscheidung von >m< und >n< bereitet ihm Schwierigkeiten, und er bittet die Tante, ihm doch zu sagen, woran man erkennt, was das eine und was das andere ist. Die Tante macht ihn darauf aufmerksam, daß das >m< doch um ein ganzes Stück, um den dritten Streich, mehr habe als das >n<.« Das ist die Erinnerung, eine unschuldige kleine Szene, als er vier war, nichts Besonderes. Aber weshalb erinnert sich der Mann nun ausgerechnet an einen so unbedeutenden Vorfall'' Ist die Banalität dieser Erinnerung nicht ein Hinweis darauf, daß sich etwas Wichtiges dahinter versteckt? Die wahre Bedeutung dieses Bildes kam erst ans Licht, als sich zeigte, daß diese Erinnerung die symbolische Vertretung war für »eine andere Wißbegierde des Knaben. Denn so, wie er damals den Unterschied zwischen >m< und >n< wissen wollte, so bemühte er sich später, den Unterschied zwischen Knaben und Mädchen zu erfahren.« Er entdeckte damals auch, ging die Erklärung weiter, »daß der Unterschied ein ähnlicher war, daß der Junge wiederum ein ganzes Stück mehr habe als das Mädchen, und zur Zeit dieser Erkenntnis weckte er die Erinnerung an die entsprechende kindliche Wißbegierde.«
    Soweit Freud.
    Schon im März 1898, kurz nachdem er den Artikel der Henris gelesen hatte, äußerte Freud in einem Brief an seinen Freund Fliess, das Vergessen der ersten Jahre unseres Lebens habe die gleiche Ursache wie die Ausbildung

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