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Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)

Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)

Titel: Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz Aly
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argumentiert seine Freundin Mirjam. Im Hin und Her der Argumente hält sie ihm entgegen: »Ich fürchte, die paar Hunderttausend Existenzen, die sich nach Palästina hinüberretten, werden einmal das allein Bleibende des jüdischen Volkes sein.« [294]
    Als 70-Jähriger reiste Siegfried Lichtenstaedter 1938 nach Palästina. Das jüdische Aufbauwerk beeindruckte ihn. Doch wollte er dort niemandem zur Last fallen und kehrte nach Deutschland zurück. Er war 1865 im mittelfränkischen Baiersdorf als Sohn des Lederhändlers Wolf Lichtenstaedter und dessen Ehefrau Sophie (geborene Sulzberger) zur Welt gekommen und wurde, wie gesagt, höherer bayerischer Regierungsbeamter. 1932 trat er in den Ruhestand. Um dem für den 1. Januar 1939 angedrohten Zusatzvornamen Israel zu entgehen, legte er im Oktober 1938 den Vornamen Siegfried ab und wählte einen, der nach dem Gesetz als eindeutig jüdisch galt. [295] Am 6. Juni 1942 deportierte ihn die Münchner Polizei mit dem Transport Nr. II/9 in das Konzentrationslager Theresienstadt. Dort starb Dr. Sami Lichtenstaedter am 6. Dezember desselben Jahres.

    Unabhängig von der weiteren wirtschaftlichen und politischen Entwicklung beobachteten Lichtenstaedter in Deutschland und Bettauer in Österreich zu Beginn der 1920er-Jahre, also vor der Weltwirtschaftskrise, den verbreiteten Volksantisemitismus. Er trug alle Ingredienzien in sich, die in Deutschland nach 1933 zu wesentlichen Bestandteilen der Staatspolitik wurden. Als bestimmende Kräfte griffen beide Autoren die Modernisierungsscheu des christlichen Volkes auf, den ständigen Ruf der Zukurzgekommenen nach »Gerechtigkeit«, die Angst vor dem wirtschaftlichen Elan der Juden, den Neid und den Rückzug der Mehrheitsbevölkerung in den Kollektivismus. Kollektivismus bedeutet das Streben nach gesellschaftlicher Homogenität, das Samjatins utopischer Roman vom egalitären Sonnenstaat karikiert. In radikalisierter Form führt das Gleichheitsstreben dahin, die Ungleichen zu diskriminieren, zu verfemen und am Ende maschinell zu vernichten.

Aufsteiger: Mein Opa und die Gauleiter
    Wie sonst nur in den USA stieg die Produktivität der deutschen Industrie zwischen 1925 und 1929 mit sagenhaftem Tempo, teils um 25 Prozent, teils um bis zu 40 Prozent. [305] Das war für die allgemeine deutsche Entwicklung typisch, die zwischen gewaltigen Kraftakten und krisenhaftem Stillstand schwankte. Der Periode betonter Fortschrittsscheu war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die überaus schnelle wirtschaftliche Modernisierung gefolgt, der die begleitende politische Reform fehlte; nach einer kurzen Phase innerer Ruhe stolperten die Deutschen dann in die selbstverzehrende Kraftanstrengung des Krieges mit forcierter Kriegswirtschaft; nach der Niederlage versanken sie für sechs Jahre in Starre, um sich dann abermals in eine die Kräfte überspannende Hochkonjunktur zu stürzen. Diese Phase endete 1929 im Desaster des größten wirtschaftlichen Zusammenbruchs der modernen Geschichte und mündete vier Jahre später in der Entfaltung ungeheuerlicher negativer Energien während der zwölf kurzen Jahre des Nationalsozialismus.
    Nicht die Rationalisierung selbst, sondern deren Geschwindigkeit störte das wirtschaftliche Gleichgewicht zwischen 1925 und 1929, produzierte Arbeitslose, setzte die eben dem Krieg halbwegs entronnenen, eigentlich ruhe- und sicherheitsbedürftigen Menschen unter erheblichen Druck. Über Kompensationsreserven verfügten sie kaum. Auch der Kraftakt, den die Deutschen während der mittleren Jahre der Weimarer Republik unternommen hatten, verpuffte in der großen Depression. »Nach kurzer, beängstigender Scheinblüte«, so resümierte der Berliner Stadthistoriker Hans Grantzow, »bricht schließlich alles zusammen; jeder siebente Berliner ist im Januar 1933 ohne Arbeit (655 000 Arbeitslose). Der Untergang scheint unvermeidlich, nachdem alle Mittel, die der parlamentarische Staat aufbringen kann, versagt haben.« [306]
    Die NSDAP profitierte seit 1929 von der Weltwirtschaftskrise, vom Streit der staatstragenden Parteien und – in erheblichem Umfang – von den sozialen Umbrüchen der Weimarer Jahre. Wie stark das gesellschaftliche Gefüge in Bewegung geriet, belegt die Statistik. Im Deutschen Reich gab es 1925 gut 32 Millionen Erwerbstätige, zwei Drittel von ihnen abhängig Beschäftigte, sei es als Arbeiter, Angestellte oder Beamte. Zwischen 1907 und 1925 wuchs die Zahl der Angestellten von 1,5 auf 3,5 Millionen, das entsprach einem

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