Warum es die Welt nicht gibt
was wir beobachten, die Tatsachen, auch konstruiert ist. Da sich dasselbe auf verschiedene Weisen beschreiben lässt und da wir viele dieser Beschreibungen für wahr halten, nehmen sie an, dass wir nicht etwa die Tatsachen an sich, sondern nur diejenigen Tatsachen »erkennen«, die uns durch die Vermittlung unserer Registraturen erscheinen. Doch nur weil wir etwas verschieden registrieren, folgt daraus ja nicht, dass wir es deswegen hervorbringen.
Besonders ausgeprägt ist diese Annahme in den interpretierenden Geisteswissenschaften, die es mit kulturellen Erzeugnissen und damit immer mit menschlichen, sozial und historisch entstandenen Konstruktionen zu tun haben. Die Interpretation eines Hölderlin-Gedichts etwa kann dabei ihrerseits interpretiert (und als strukturalistisch, psychoanalytisch oder hermeneutisch analysiert) werden. Der Konstruktivismus ist aber nicht nur als Interpretation der Interpretation kultureller Erzeugnisse verbreitet, sondern findet sich auch dort, wo wir den Naturwissenschaften vorwerfen, lediglich Weltmodelle zu entwerfen, anstatt die Welt, wie sie ist, zu erkennen. Dieser Vorwurf ist jedoch nicht bloß unangebrachte Bescheidenheit, sondern schlicht ein Fehler, den man leicht einsehen und beheben kann.
Nehmen wir an, wir sitzen gerade im Zug und erkennen, dass Passagiere einsteigen. In diesem Fall ist es eine Tatsache, dass Passagiere in einen Zug einsteigen. Vorausgesetzt, wir unterliegen keiner optischen Illusion, was möglich, aber wohl die Ausnahme ist, vermittelt uns unsere Registratur (unsere Augen) ein zutreffendes Bild der Tatsachen. Die so erkannte Tatsache besteht an sich, was in diesem Kontext bedeutet: Die Passagiere wären auch dann in den Zug eingestiegen, wenn niemand an Bord des Zuges sie dabei beobachtet hätte. Ebenso hätte sich Goethes Faust auch dann in Gretchen verliebt, wenn kein Germanist das Stück jemals zu Gesicht bekommen hätte. Die Darstellung der Figur mit dem Namen »Albertine Simonet« in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist eine komplexe literarische Auseinandersetzung mit Monets Impressionismus (Si-Monet), ganz egal, ob im Grundkurs der Vergleichenden Literaturwissenschaften darüber gesprochen wird oder nicht. Dasselbe gilt auch für Prousts Erfindung eines Malers namens »Elstir«, den er in seinem Roman mit Monet vergleicht. Wenn die Menschheit einmal Monet vergessen sollte, bliebe es dennoch wahr, dass Monet im selben Paris wie Proust lebte, Elstir hingegen nur in seiner und unserer Einbildung. Man kann sich die Frage stellen, welche Figuren oder Geschehnisse Gustav von Aschenbach in Thomas Manns Der Tod in Venedig halluziniert, aber das heißt nicht, dass man die Erzählung richtig interpretierte, wenn man annähme, alles , was Gustav von Aschenbach wahrnimmt, sei eine Halluzination und er sitze in Wahrheit in einer Hamburger Wohnung, wo er zu viel LSD zu sich genommen hat.
Auch innerhalb von Romanen, Erzählungen oder Filmen und so weiter, die man gemeinhin als »fiktiv« charakterisiert, gibt es Tatsachen und Fiktionen. Auch Romanfiguren können sich Sachverhalte einbilden. Selbst die häufig als stabil angesehene Grenze zwischen »fiktiver« und »realer« Welt wird von vielen Kunstwerken – etwa Fake-Dokumentationen wie The Office oder Parks and Recreation – gekonnt unterlaufen. Filme wie Inception unterminieren ebenfalls die Distinktion von »Fiktion« und »Realität«. Inception handelt von einer Technik, die uns in Traumwelten versetzt, die wir für real halten, und spielt auf diese Weise mit dem Topos, dass Filme visualisierte und animierte Traumwelten sind.
Wenn wir überhaupt etwas erkennen, erkennen wir Tatsachen. Diese Tatsachen sind häufig Tatsachen an sich, also Tatsachen, die auch ohne uns Bestand haben. Eine heute weitverbreitete Version des Konstruktivismus beruft sich auf die Hirnforschung. Man liest und hört manchmal, dass die bunte vierdimensionale Wirklichkeit, die wir wahrnehmen, ein Konstrukt oder eine Konstruktion unseres Gehirns sei. In Wahrheit gäbe es nur physische Teilchen oder irgendwelche »verrückten« Vorgänge, etwa zitternde Strings in vieldimensionalen Räumen oder, weniger erfinderisch, subatomare Teilchen, die durch gewisse Gesetze gleichsam zu farblosen Festkörpern gerinnen, an denen Lichtteilchen abprallen. Durch Kontakt mit unseren Nervenenden entstünden Reize, die unser Gehirn dann unbewusst zu einer Art interaktivem Videospiel verknüpft, das wir kollektiv halluzinieren. Solche
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