Warum es die Welt nicht gibt
»Visionen« sind dadurch reizvoll, dass sie unserem Leben den Glanz eines Science-Fiction-Films aus Hollywood verleihen und nicht bloß die Tristesse eines denkenden und arbeitenden Tiers auf einem aberwitzig unbedeutenden Planeten. Der Gehirn- oder Neurokonstruktivismus ist ein modernes oder vielmehr postmodernes Märchen für Menschen, die immer noch lieber in einem Horrorfilm wie etwa David Cronenbergs Videodrome leben als in der manchmal banal erscheinenden Alltäglichkeit.
Schaut man sich den Neurokonstruktivismus genauer an, sieht man sofort, dass an ihm ungefähr gar nichts wahr ist, außer dass wir Gehirne haben und dass es Teilchen und spannende spekulative physikalische Theorien gibt. Wenn alles, was wir mittels unseres Gehirns beobachten, nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, da diese nur aus zitternden Strings besteht, die sich in elf Dimensionen bewegen, dann gilt dies auch für unser Gehirn selbst. Der Neurokonstruktivismus müsste seinen eigenen Behauptungen gemäß konsequenterweise annehmen, dass wir überhaupt kein Gehirn haben. Daraus folgt aber, dass die These, unsere bunte vierdimensionale Umwelt sei eine körperinterne Gehirnsimulation, selbst in jeder Hinsicht nur eine hirnlose Simulation ist. Wenn wir den Neurokonstruktivismus beim Wort nehmen, können wir also ganz beruhigt sein: Denn es gibt ihn gar nicht, er ist nur eine Theoriesimulation und kein wahrheitsfähiges (geschweige denn wahres!) Gebäude von Aussagen.
Der allgemeine Grundfehler des Konstruktivismus besteht darin, dass er nicht erkennt, dass es kein Problem ist, Tatsachen an sich zu erkennen. Meine Sitznachbarin erkennt ganz genau dasselbe wie ich, wenn sie erkennt, dass Passagiere in den Zug einsteigen. Für diese Tatsache spielt es keine große Rolle, ob meine Sitznachbarin oder ich sie erkennen.
Wie gesehen, kann man allenfalls sagen, dass der Erkenntnis vorgang eine Konstruktion ist: Weder meine Zugnachbarin noch ich wären imstande zu erkennen, dass Passagiere in den Zug einsteigen, wenn wir kein Gehirn oder keine Sinnesorgane hätten. Aber selbst wenn man behauptet, dass der Erkenntnisvorgang eine Konstruktion ist und dass er von einigen Konstruktivisten einigermaßen angemessen rekonstruiert wird (auch dies würde ich übrigens bezweifeln), beweist dies nicht, dass es keine Tatsachen gibt.
Die Bedingungen des Erkenntnisvorgangs sind nämlich in den allermeisten Fällen von den Bedingungen des Erkannten unterschieden. Dass ich aus dem Fenster blicke und die Augen nicht fest verschließe, ist die Bedingung dafür, dass ich sehe, wie die Passagiere in den Zug einsteigen. Dass der Zug angehalten hat und die Türen geöffnet sind, ist hingegen eine Bedingung dafür, dass die Passagiere in den Zug einsteigen. Die Passagiere steigen nicht in den Zug ein, weil ich dies sehe, sondern ich sehe dies, weil die Passagiere in den Zug einsteigen. Sie steigen deswegen auch nicht in mein Bewusstsein oder mein Gehirn, sondern eben in den Zug ein.
Der Konstruktivismus beruft sich manchmal darauf, dass die Interpretation dessen, was es zu interpretieren gilt (ein astronomisches Gebilde, ein literarischer Text, eine Klaviersonate), sehr viel komplizierter ist als eine alltägliche Szene am Bahnsteig. Doch auch Letztere ist nicht so einfach, wie sie uns erscheint. Kein anderes Tier auf diesem Planeten ist imstande zu erkennen, dass Passagiere in den Zug einsteigen, da die anderen Tiere kein Konzept von Zügen oder Passagieren haben. Mein im Zug befindlicher Hund freut sich vielleicht und wedelt mit dem Schwanz, wenn er mich auf dem Bahnsteig die Tür öffnen sieht, doch er nimmt dies nicht als Einsteigen in den Zug wahr. Vielleicht erkennt er, dass ich gleich bei ihm sein werde, dass ich ihm zuwinke, aber nicht, dass der Zug in den Bahnhof eingefahren ist (auch wenn er spüren dürfte, dass eine Bewegung aufgehört hat).
Im Übrigen spielt es für die Frage, ob es Tatsachen gibt, keine unmittelbare Rolle, ob wir diese überhaupt oder in welchem Umfang wir sie erkennen können. Zwar hängt der Begriff der Tatsache mit dem Begriff der Erkenntnis auf vielfältige Weise zusammen. Doch keine Analyse dieses Zusammenhangs sollte zu dem Ergebnis kommen, dass es keine Tatsachen, sondern nur Interpretationen gibt, weil dieses Ergebnis schlicht falsch ist und die Analyse demnach ebenfalls an irgendeinem Punkt fehlerhaft sein muss. 13
Philosophen und Physiker
Die Welt selbst ist in Bereiche eingeteilt. Nimmt man an, dass nur wir die Welt
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