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Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts?

Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts?

Titel: Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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sprechen, hast du keinen Namen und auch keinen Nachnamen. Du kennst deine Eltern nicht und nicht deine Großeltern. Du weißt nicht, in welcher Stadt du geboren wurdest und auch nicht in welchem Land. Nicht mal den Planeten kennst du, von dem du stammst. Kann sein, dass das Raumschiff, in dem du lebst, gerade an deinem Heimatplaneten vorbeifliegt, ohne dass du auch nur einen blassen Schimmer davon hast. Niemand erzählt dir eine Geschichte über dich und berichtet, wie du als Säugling warst oder als kleines Kind. Keiner sagt dir, wann du das erste Mal gelacht hast und was du Drolliges angestellt hast und warum das mal wieder » typisch« für dich war. Was » typisch« für dich ist, weißt du bis heute nicht. In der Welt der Zeichensprache, die die Aliens mit dir sprechen, gibt es nur die Dinge, die man sehen und anfassen kann: Zimmer, Fenster, Planeten, Sterne, Bett, Essen. Auf ein Glas Wasser zeigen, heißt » trinken«, und auf ein Bett zeigen, heißt » schlafen«.
    Was würde das alles für dich bedeuten? In der Zeichensprache gibt es kein Zeichen für morgen und übermorgen und auch kein Zeichen für gestern oder früher. Es gäbe also keine Vergangenheit und auch keine Zukunft. Und weil es keine Worte dafür gibt, hast du auch kein Werkzeug im Kopf, um darüber nachzudenken. Du würdest immer nur im Hier und Jetzt leben. Du könntest dir auch keine Geschichten ausdenken, da dir auch hierfür die Worte fehlen. Denn ohne eine richtige Sprache kann man nicht über Dinge reden, die man nicht sehen und anfassen kann. Und vieles von dem, was du diffus fühlst, hätte keine richtige Gestalt: nicht die Liebe, nicht die Treue, nicht die Sehnsucht und nicht die Einsamkeit. Wahrscheinlich würdest du auch nicht das tun, was sieben Milliarden Menschen auf der Erde jeden Tag tun: Du würdest nicht » Ich« sagen …
Stimmt, Papa, man kann ja gar nicht » Ich« sagen. Man kann ja gar nichts sagen.
Du würdest dich ja auch nicht an Wörter oder Sätze, sondern nur an Zeichen erinnern. Etwas anderes kennst du ja nicht. Was zum Beispiel würdest du machen, wenn das Essen nicht schmeckt? Wie würdest du das anderen zeigen?
(Oskar streckt die Zunge heraus) Bääääääh!
Wörter dagegen hätten für dich keine Bedeutung. Auch das Wort » Oskar« nicht.
Das gäbe es für mich gar nicht.
In deinem Kopf wäre keine Vorstellung von dem, was » Oskar« ist, sondern vielleicht nur so ein Gefühl, dass du nicht jemand anderes bist. Aber was so richtig typisch für dich ist, das wüsstest du nicht. Auch deine Interessen wären nicht so, wie sie sind. Du interessierst dich doch für verschiedene Sachen …?
Für Ritter, für Indianer und für Cowboys, Greifvögel, Dinosaurier, Star Wars, Tim und Struppi, Harry Potter, Kung-Fu-Panda, für Fußball, Piraten, Fabelwesen, Monster …
Kennst du ein anderes Kind, das sich für genau die gleichen Dinge interessiert?
Nein.
Wer sind deine besten Freunde?
Jasper, Jan-Paul, Robin, Ole, Lorenz, Luis, Nico.
Was machst du, wenn du mit ihnen zusammen bist? Worüber redet ihr?
Über Star Wars. Aber die anderen haben nicht immer die gleichen Interessen.
Aber manche teilt ihr?
Nico mag Fußball, Lorenz mag Fußball, auch Jasper und Luis.
Wie ist es mit Dinosauriern? Interessieren die anderen sich auch dafür?
Nico. Aber nicht so sehr wie ich.
Für Greifvögel?
Keiner so richtig.
Aber du interessierst dich dafür. Du kennst zum Beispiel ganz seltene Greifvögel, von denen andere noch nie gehört haben …
Kalifornischer Kondor, Aplomeda-Falke, Madagaskar-Schlangenadler …
Was meinst du, Oskar, wie viele andere Menschen, sagen wir mal in Berlin, diese Vögel kennen?
Vielleicht zehn?
Ja, möglicherweise. Vielleicht auch hundert. Aber mehr wahrscheinlich nicht. Dafür gibt es ganz viele Menschen, die Dinge wissen, von denen wir beide keine Ahnung haben. Es gibt Menschen, die kennen jedes Handy-Modell, das je gebaut wurde, oder alle Automarken. Oder Spezialisten, die alles über Münzen wissen oder Briefmarken. Was in deren Kopf an Wissen und Gedanken versammelt ist, ist nur in ihrem Kopf. Jeder ist eine ganz eigene sehr seltene Mischung.
Also sozusagen eine vom Aussterben bedrohte Art …?
Ja, sozusagen. Das gefällt mir sehr gut: Jeder einzelne Mensch ist, wie du sagst, eine vom Aussterben bedrohte Art! Aber dass wir so besonders sind, wissen wir nur, weil wir uns mit anderen vergleichen. Damit haben wir übrigens auch schon unsere achte philosophische Einsicht:
    Wir wissen, dass wir anders sind als die

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