Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts?
der, dem deine Gefühle gehören?
Bei mir sind es, glaube ich, die Gedanken.
Was meinst du damit, Oskar?
Ich denke an was Bestimmtes, was gerade kein anderer denkt. Ich baue mir eine Welt im Kopf, die kein anderer kennt.
Und wer hat das gemacht?
Ich!
Wir Menschen wissen, wer wir sind, weil unsere Gefühle, Gedanken und Erinnerungen eine Art Zentrum haben – eben unser » Ich«. Und weil wir wissen, dass wir » Ich« sind, können wir unglaubliche Dinge tun. Zum Beispiel können wir uns auch dann selbst erkennen, wenn wir verkleidet sind und sagen wir zum Beispiel eine Gorillamaske aufhaben. Wir erkennen uns in Zerrspiegeln. Wir erkennen uns auf lange zurückliegenden Kinderfotos, ja sogar auf dem Ultraschallbild von uns selbst im Bauch unserer Mamas. Da sind wir nur wenige Zentimeter groß, aber wir wissen ganz genau – das bin ich! Selbst ein Röntgenbild unserer Knochen halten wir für ein Bild von uns selbst – obwohl wir uns in echt gar nicht darauf erkennen können. Ein Arzt könnte das Bild austauschen, ohne dass wir es merken würden. Das Ich ist also gar nicht so sehr ein Erkennen von Ähnlichkeiten. Ganz viel von unserem Ich hängt damit zusammen, was wir über uns selbst gehört haben. Und was wir über uns selbst wissen.
Unsere siebte philosophische Weisheit lautet:
Alle Menschen, die keine schwere geistige Krankheit oder Störung haben, sagen zu sich » Ich«. Aber es ist gar nicht so leicht zu sagen, was dieses Ich überhaupt ist.
Denn …
= Bin ich wirklich ich?
Im Irrgarten in Marzahn
Bin ich wirklich ich?
Heute machen wir einen Ausflug nach Marzahn. Viele Menschen, die noch nie in Marzahn waren, meinen, dass es hier einfach nur furchtbar ist. Sie denken an Hochhäuser, Beton, Armut und Kriminalität. In Wirklichkeit aber ist Marzahn ein Stadtteil mit vielen Gesichtern. Hier gibt es nicht nur die Straße mit dem vielleicht schönsten Namen in ganz Berlin: die » Allee der Kosmonauten«. Es gibt auch ein kleines Dorf, das alte Marzahn. Und es gibt einen riesigen Erholungspark. In diesem Park liegen die » Gärten der Welt«. Sie bestehen aus einem chinesischen Garten, einem japanischen, einem koreanischen, einem burmesischen, einem orientalischen und einem Renaissance-Garten. Alle sind wunderschön und nach allen Regeln der Gartenkunst zu Oasen der Stille gestaltet. Da ist es schon ein merkwürdiges Gefühl zu wissen, dass man mitten in einer städtischen Hochhauslandschaft ist, wenn man versunken an einem chinesischen Tempel steht, der sich im Wasser spiegelt. Oder man geht durch ein koreanisches Landhaus aus dem 15 . Jahrhundert, einen » Hof der Stille«, und fühlt sich in eine völlig andere Zeit an einen anderen Ort versetzt. Gleich muss ein weiser alter Philosoph um die Ecke kommen, mit einem geflochtenen Zopf in einem weißen Kimono …
Der Höhepunkt für Oskar aber ist der große Irrgarten inmitten des Parks. Er sieht ganz genauso aus wie der berühmte Irrgarten des berüchtigten englischen Königs Heinrich VIII . in dessen Schloss Hampton Court in der Nähe von London. Mitten im Irrgarten stelle ich ihm eine Frage:
Sag mal, Oskar, wenn dir jetzt hinter der nächsten Hecke ein Junge begegnen würde, der ganz genauso aussieht wie du, wie würdest du reagieren?
Ich würde ihn fragen, wie er heißt.
Und er sagt: Oskar Jonathan Precht. Wie fändest du das? Wäre das eine schöne Vorstellung?
Eine gruselige!
Und warum?
Weil das ein ganz komisches und gar nicht gutes Gefühl ist, genauso zu sein wie ein anderer.
Ja, ich glaube, Oskar, das wäre es für mich auch. Wir haben ja gestern im Technikmuseum über das » Ich« geredet. Da ging es vor allem darum, ob wir uns im Spiegel erkennen und warum das so ist. Aber ich glaube, zu unserem » Ich« gehört noch viel mehr, als dass wir uns selbst im Spiegel erkennen. Gehört nicht auch dazu, dass wir uns als etwas ganz Besonderes empfinden – etwas Einzigartiges …?
Stell dir einmal vor, du wärst als kleines Kind von Außerirdischen entführt worden. Sagen wir im Alter von ungefähr einem Jahr. Die Aliens versorgen dich mit allem, was du zum Überleben brauchst: Sie geben dir zu essen und zu trinken. Du musst nicht frieren und hast gesunde Luft zum Atmen. Ein Bett zum Schlafen hast du auch. Und wenn du krank bist, wirst du medizinisch bestens versorgt.
Einen Namen allerdings geben dir die Außerirdischen nicht. Sie reden ohnehin nicht mit dir. Wenn sie wollen, dass du etwas tust oder lässt, geben sie dir Zeichen. Da sie nicht mit dir
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