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Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts?

Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts?

Titel: Warum gibt es alles und nicht nichts? - Precht, R: Warum gibt es alles und nicht nichts? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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Tag. Die Nachmittagssonne brennt hell und heiß, und Phineas Gage ist seit den Morgenstunden bei der Arbeit. Gage ist Fachmann für Sprengstoff, der tüchtigste und fähigste Mann der Eisenbahngesellschaft.
    Sein Auftrag besteht darin, die Felsen wegzusprengen, die der neuen Eisenbahnlinie im Weg sind. Die Arbeiter in Vermont sind kurz vor der Stadt Cavendish. Bald schon werden die Schienen durch die Neuenglandstaaten verlegt sein und Passagiere voller Erwartung über 200 Meilen hinweg von Rutland nach Boston reisen.
    Um die Felsen zu sprengen, bohren die Arbeiter tiefe schmale Löcher in den Felsen. Danach schütten sie hochexplosives Schwarzpulver hinein und legen eine Zündschnur. Doch bevor die Sprengung beginnt, muss das Schwarzpulver noch mit Sand abgedeckt werden. Ohne die Sandschicht nämlich würde der Druck der Explosion einfach nach oben aus dem Bohrloch entweichen. Der Sand aber sorgt dafür, dass die Explosion in alle Richtungen wirkt. Nur so wird der Felsen auch tatsächlich gesprengt.
    Doch wie klopft man den Sand in dem engen Bohrloch fest? Genau dies ist die Aufgabe von Phineas Gage. Mit einer zwei Meter langen Eisenstange stampft er den Sand im Bohrloch fest. Erst danach kann die Zündschnur angesteckt werden. Die Arbeiter bringen sich in Sicherheit, und der Felsen explodiert.
    An diesem Tag im September aber ist alles anders. Gerade hat Gage Pulver und Zündschnur in einem neuen Bohrloch verstaut. Und er hat seinen Helfer aufgefordert, das Ganze mit Sand abzudecken. Jetzt greift er nach der Eisenstange, um den Sand über dem Sprengstoff festzustampfen. Da spricht ihn jemand von hinten an. Gage dreht sich um und wechselt ein paar Worte. Routiniert stößt er zugleich die Eisenstange in die Grube. Was er nicht sieht, ist, dass sein Helfer noch keinen Sand eingefüllt hat. Gage redet und lacht und stößt dabei mit der Stange ins Bohrloch direkt gegen die Felsen und das Schwarzpulver. Und da die Stange aus Eisen ist, schlägt sie dabei Funken aus dem Felsen. Und einer der Funken trifft das Schwarzpulver …!
    In diesem Augenblick explodiert der Sprengstoff. Die Eisenstange fährt Gage durch die linke Wange ins Gehirn, durchbohrt den Kopf und fliegt durch das Schädeldach wieder heraus. Dreißig Meter weiter knallt die Stange zu Boden, mit Blut und Hirngewebe verschmiert. Gage liegt am Boden. Die Nachmittagssonne scheint über die Felsen. Die Eisenbahnarbeiter stehen gebannt und starr vor Entsetzen. Nur wenige trauen sich näher heran und sehen das Unfassbare: Phineas Gage lebt!
    Mit einem Loch quer durch den Schädel erlangt Gage das Bewusstsein zurück. Obwohl unablässig Blut aus der offenen Wunde rinnt, ist er in der Lage, seinen Kollegen den Unfall zu erklären. Die Arbeiter heben ihn auf einen Ochsenkarren. Aufrecht sitzend fährt er über einen Kilometer zu einem benachbarten Hotel. Er ist ein verdammt harter Bursche. Die anderen Eisenbahnarbeiter staunen nicht schlecht, als Gage selbständig vom Wagen herunterklettert. Er setzt sich auf einen Stuhl im Hotel und wartet. Als der Arzt eintrifft, begrüßt er ihn mit den Worten: » Hier gibt es eine Menge Arbeit für Sie, Doktor.«
    Heute liegt Gages Schädel im Museum der Universität Harvard und bereitet der Wissenschaft Kopfzerbrechen. Phineas Gage, bei seinem Unfall 25 Jahre alt, lebte noch dreizehn Jahre mit seiner fürchterlichen Kopfverletzung.
    Gage konnte fühlen, hören und sehen. Er war nicht gelähmt oder körperbehindert. Nur sein linkes Auge hatte er verloren. Dafür konnte er immer noch normal gehen und reden. Als Sprengstoff-Experte allerdings wurde er nicht mehr eingesetzt. Gage fand Arbeit auf Pferdefarmen. Aber schon nach kurzer Zeit flog er wieder raus. In seiner Hilflosigkeit trat er auf Jahrmärkten auf, dann als Attraktion in einem Museum, wo er sich mitsamt seiner Eisenstange zur Schau stellte. Schließlich wanderte er aus nach Chile. Er arbeitete auf Pferdegütern und als Postkutscher. 1860 ging er nach San Francisco und lebte dort als Obdachloser. Er bekam epileptische Anfälle und starb im Alter von 38 Jahren. Man beerdigte ihn gemeinsam mit seiner Eisenstange, von der er sich nie getrennt hatte.
    Warum war Gages Leben so schiefgelaufen? Die Antwort ist gespenstisch: Der ehemalige Eisenbahnarbeiter hatte sich durch den Unfall auf eine sehr merkwürdige Weise verändert. Sein Charakter war ganz anders geworden! Vorher galt er als der netteste unter allen seinen Kollegen. Doch nach dem Unfall war er nicht, wie er vorher

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