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Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Titel: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchester
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Vernichtung von Barings nach sich, der ältesten Handelsbank Großbritanniens. Ein Jahr bevor Barings Pleite ging, hatte der Vorstandsvorsitzende der Bank, Peter Baring, noch ganz weltmännisch zum Vorsitzenden der Bank of England gesagt, es sei »im Grunde doch gar nicht so schwer, im Wertpapiergeschäft Geld zu verdienen«.
    Die Macht, die Derivate ausüben, ist auch das, was sie hauptsächlich kennzeichnet: ihre Fähigkeit, Risiken abzusichern, aber auch – und das ist wesentlich beunruhigender –, sie um ein Vielfaches zu vergrößern. Ihre zweite Haupteigenschaft ist ihre Komplexität. Wir haben uns unendlich weit von jenem Preisangebot für die Weizenernte vom nächsten Jahr entfernt. Heutzutage ist ein Derivat meistens eine Mischung aus verschiedenen Optionen, Futures, Währungen und Schuldscheinen, und seine Struktur und Preiskalkulation sind im wahrsten Sinne des Wortes eine Wissenschaft für sich.In diesem Geschäft wimmelt es nur so von Leuten mit einem Doktortitel in Mathematik. Manche Derivate sind absichtlich so angelegt, dass man die wahre Natur der ihnen zugrunde liegenden Vermögenswerte gar nicht mehr erkennen kann – aber man darf nicht vergessen, dass es sich dabei oft genug umSchulden handelt, die einfach nur in eine andere Verpackung gesteckt werden. Man verkauft sie in sogenannten »Black Box«-Paketen, deren Aufgabe es ist, ihren eigenen Inhalt zu verschleiern. Es übersteigt den Horizont von Laien bei Weitem, die auf diese Weise entstandenen Produkte zu verstehen, und oft auch den Horizont der Leute, die sie kaufen und verkaufen. »Wir haben dieses Zeugs erfunden, also wissen wir auch, wie es funktioniert«, sagte mein Freund Tony einmal zu mir und bezog sich dabei auf die Tatsache, dass die Bank, bei der er arbeitet, zu den ersten Marktteilnehmern auf dem Gebiet der Derivate gehörte. »Aber ich bekomme langsam den Eindruck, dass viele Banken sich nur deshalb daran beteiligen, weil das die Anderen auch tun – sie haben eigentlich gar keine Ahnung, worauf sie sich da einlassen.«
    Das zählt zu den Gegebenheiten des heutigen Bankwesens, denen wir ins Auge schauen müssen: seine Übernahme durch die höhere Mathematik. Früher war das anders. Mein Vater war, wie schon erwähnt, ebenfalls bei einer Bank angestellt. Er kam 1948 nach London, hatte einen Abschluss der Universität von Melbourne in der Tasche und sprach fließend Japanisch, das er während seines Dienstes in der australischen Armee gelernt hatte. Infolgedessen erhielt er einen Posten bei der Hongkong and Shanghai Bank und verbrachte fast sein gesamtes Berufsleben in Asien. Die Bank, für die er arbeitete, war damals eine äußerst konservative Institution und sehr durch ihre Kolonialvergangenheit geprägt. Aber sie war auch ein gut geführtes Unternehmen, das schon damals anfing zu expandieren. Heute ist diese Bank ein weltweit agierender Firmengigant, der in der Liste der größten Unternehmen der Gegenwart auf dem 21. Platz steht. 1948 war sie in vielerlei Hinsicht eine ganz typische Bank, auch was den folgenden Punkt betrifft: Inder Generation der neu eingestellten Manager, zu der mein Vater gehörte, war er der Einzige mit Universitätsabschluss. Er stach aus dem Rest der Angestellten als eine Art Intellektueller heraus, nur weil er studiert hatte. Ein halbes Jahrhundert später stellt die HSBC am liebsten nur noch Leuteein, die Prädikatsabschlüsse aus Oxford oder Cambridge haben, vorzugsweise in Mathematik oder einer Naturwissenschaft. Das ist eine der Folgen der »Mathematisierung« der Banken, die besonders in den neunziger Jahren Konjunktur hatte und seither unumkehrbar geworden ist. Damals begannen die Banker, neue Finanzwerkzeuge und Techniken zu benutzen, die sich aus unglaublich komplexen mathematischen Formeln herleiteten. In seinem brillanten Buch über das Risiko, Narren des Zufalls , schreibt Nassim Taleb über diese Zeit: »Man erzählte sich, dass in jedem aus Moskau eintreffenden Fdietreffenlugzeug zumindest in der letzten Reihe lauter russische, mathematisch orientierte Physiker saßen, die sich auf dem Weg zur Wall Street befanden.« 14 Eine der Folgen dieser neuen Tendenz im Bankgeschäft war, dass sie zu erheblichen Wissensdiskrepanzen zwischen den Führungskräften und den »Quants« führte, wie Mathematiker innerhalb des Bankwesens genannt werden. (Einer meiner Freunde, der einen MBA aus Stanford hat, fordert die Studenten in seinen Kursen immer auf, sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden:

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