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Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Titel: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchester
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erledigt, was aber nicht heißt, dass der Vertrag zur Lieferung der Bäuche die ihm bevorstehenden Abenteuer im Finanzsystem schon hinter sich gebracht hat. Der erste Händler verkauft ihn an einen zweiten Händler, der ihn wiederum an einen dritten Händler verkauft, welcher sich Sorgen macht, dass er Anfang des Jahres für eine Lieferung Schweinebäuche einen zu hohen Preis bezahlt hat und deshalb jetzt den Durchschnittspreis senken will. Aber die Person, an die er seinerseits den Vertrag verkauft, behält ihn eine Weile und verkauft ihn zu einem späteren Zeitpunkt, weil der Preis für die Schweinebäuche der kommenden Saison in der Zwischenzeit gestiegen ist. Nun ist Ihr Schweinebauchvertrag – denn das ist es ja, womit hier gehandelt wird, ein Schweinebauch-Derivat-Vertrag – im Wert gestiegen. Der tatsächliche Wert der Schweinebäuche ist bei den 100 000 Euro geblieben, für die Sie den Vertrag verkauft haben, wohingegen die Derivate in der Zwischenzeit viermal verkauft worden sind und dabei einen fiktivennebnen fik Finanztransaktionswert von 400 000 Euro geschaffen haben. Deswegen wird in diesem Zusammenhang der Begriff »fiktiv« benutzt – denn es handelt sich ja nicht um echte Geschäfte mit Schweinebäuchen, sondern um Geschäfte mit Schweinebauch-Derivaten beziehungsweise mit dem Vertrag, die Schweinebäuche auszuliefern. Und deswegen kann es auch geschehen, dass sich der Wert des fiktiven Vertrags bis in geradezu astronomische Höhen vom Wert des zugrunde liegenden tatsächlichen Vermögenswerts entfernt. 5
    Selbst wenn man die Sache erklärt bekommen hat, scheint es doch dem gesunden Menschenverstand vollkommen zu widersprechen, dass der Markt für Produkte, die sich von den realen Produkten nur ableiten, so unglaublich viel größer sein soll als der Markt der Produkte selbst. Die Derivate scheinen uns in eine modernistische Welt zu entführen, in der das Wort »Risiko« längst nicht mehr das bedeutet, was wir eigentlich darunter verstehen, und in der sich ein tiefer Abgrund zwischen der Sprache des Finanzwesens und der Sprache des gesunden Menschenverstandes aufgetan hat. Für den Laien sind Derivatkontrakte und die gesamte Palette der eng damit verbundenen anderen Finanzinstrumente nur sehr schwer zu begreifen. Das sind alles Produkte, die man ursprünglich geschaffen hat, um Risiken auf eine andere Person zu übertragen oder diese Risiken irgendwie abzusichern. Man wollte eine Art Versicherungsschutz für den Fall haben, dass die Preise fallen und man eigentlich darauf gewettet hatte, dass sie steigen. Jener Bauer von damals, der die Ernte des nächsten Jahres verkaufte, wäre zwar höchstwahrscheinlich nicht in der Lage gewesen, die heutzutage verbreiteten Finanzderivate zu verstehen, aber den eben beschriebenen Nutzen hätte er sehr wohl nachvollziehen können.
    In einer perfekten, idealen Welt, die nur von Vegetariern, Esperanto sprechenden Menschen und plüschigen süßen Häschen bevölkert ist, würde man Derivate lediglich für einen einzigen Zweck benutzen, nämlich um das Risiko zu senken. Weil man Derivate »auf Marge« kauft – das heißt, nicht für die Gesamtkosten des zugrunde liegenden Vermögenswertes, sondern lediglich für eine im Voraus gezahlte Prämie, wie in dem oben beschriebenen Ferrari-Beispiel –, bieten sie eine günstige und flexible Art von Versicherung für den Fall, dass etwas schiefgeht. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie wären überzeugt, dass die Börsenkurse nächstes Jahr um 50 Prozent steigen. Sie haben das sozusagen im Urin – und sind sich Ihrer Sache so sicher, dass Sie sich 100 000 Euro borgen, um damit Aktien zu kaufen. Wenn die Märkte tatsächlichnach oben schießen, sind Sie natürlich sehr zufrieden mit sich, aber wenn Sie sich irren und die Märkte abstürzen, haben Sie einen schlimmen Verlust erlitten – es sei denn, Sie haben sich in irgendeiner Form dagegen versichert. Also kaufen Sie eine Option für 10 000 Euro, die es Ihnen erlaubt, die Aktien für einen geringeren Preis zu verkaufen, als Sie dafür bezahlt haben. Dieses Geld wäre verschwendet, falls der Wert Ihrer Aktien steigt – aber das wird Ihnen nicht viel ausmachen, weil Ihre Hauptposition ja ordentlich Profit eingebracht hat. Falls aber die Aktien im Kurs sinken, haben Sie nun eine Art Versicherung – Sie können die Option, die Aktien zu einem niedrigeren Preis zu verkaufen, einlösen und den Großteil Ihrer Verluste damit aus der Welt schaffen. Wenn man eine solche

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