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Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Titel: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchester
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»Dichter« oder »Quants«.) Den Managern gefiel, zu welch tollen Dingen die Quants in der Lage waren, aber sie verstanden sie nicht immer – und das hatte Folgen, die heute leider nur zu deutlich zu Tage treten. Ein ranghoher Beamter im britischen Finanzministerium berichtete einmal, während einer gesellschaftlichen Veranstaltung sei ein Aufsichtsratsmitglied einer Bank zu ihm gekommen und habe ihm gesagt, er habe gute Neuigkeiten: »Wir werden uns in Zukunft nicht mehr in Sachen verwickeln, die wir nicht verstehen.« Der Beamte des Finanzministeriums fügte hinzu: »Seine Bank gehört jetzt uns.«
    Derivate bilden einen wesentlichen Teil dieser neuen mathematischen Komplexität. Eines ihrer hauptsächlichen Anwendungsgebiete ist die Arbitrage. So nennt man Investitionen, die im Endeffekt auf beiden Seiten der Märkte eine Wette abschließen. Dabei nutzen sie geringe Preisunterschiede aus, um auf diese Weise einen relativ risikofreien Profit zu erzielen. (Genau diese Art von Handel war eigentlich Nick Leesons Aufgabe.Er sollte winzige Differenzen im Preis von Nikkei-225-Futures ausnutzen, die zwischen den Börsen von Osaka und Singapur entstanden, weil in Osaka der Handel elektronisch abgewickelt wurde, in Singapur dagegen nicht. Der Preisunterschied bestand jeweils nur ein paar Sekunden, und während dieser Zeit würde Barings dann günstig kaufen und teuer verkaufen – ein garantierter und vollkommen risikofreier Gewinn.) Die mathematische Komplexität, die bei Derivaten ins Spiel kommt, kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Das war auch der Grund, warum sich der berühmte Börsenhändler John Meriwether Myron Scholes mit ins Boot holte –jenen Scholes, der die Black-Scholes-Formel mit erfunden hatte – sowie Robert Merton, den Mann, mit dem sich Scholes 1997 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften teilte. Mit ihnen zusammen gründete und leitete Meriwether seinen neuen Hedgefonds »Long-Term Capital Management«. 6 Die Idee war, dass alle diese klugen Köpfe zusammen einen Wertpapierbestand im Arbitragebereich mit hohem Leverage-Effekt und null Risiko auf die Beine stellen sollten, der, ganz gleich ob nun die Kurse rauf oder runter, seitwärts oder mal eben um die Ecke zum Kiosk gingen, Gewinne einfahren würde. In den ersten vier Jahren vervierfachte sich der Wertvon LTCM. Dann jedoch brach das Unternehmen zusammen. Schuld waren zum großen Teil die Wirren, die auf die sogenannte »Russlandkrise« 1998 folgten, als Russland die Bedienung seiner Auslandsschulden einstellen musste. Der Fonds verfügte über Eigenkapital von 4,72 Milliarden Dollar, was eigentlich sehr gesund klingt, wenn da nicht das Problem gewesen wäre, dass er gleichzeitig einem starken Risiko ausgesetzt war, dass also seine Exposure überaus hoch war und sich, dank der Wunder der Kreditaufnahme, des Leverage-Effekts und der Derivate, auf 1,25 Billionen belief. Bei einer Pleite würde das Unternehmen also ein Loch von 1,25 Billionen Dollar in das globale Finanzsystem reißen. Alle diese klugen Köpfe hatten einen klassischen Fehler gemacht: Sie hatten eine sehr unwahrscheinliche Entwicklung (den russischen Zahlungsverzug und seine Konsequenzen) so behandelt, als wäre sie ein Ding der Unmöglichkeit. Wie John Maynard Keynes einmal bemerkte – jener Keynes, der sich und sein College reichmachte, iie ichmachndem er jeden Tag eine halbe Stunde damit verbrachte, im Bett zu liegen und an der Börse zu spekulieren –, gibt es nichts, was so verheerend ist wie eine rationale Strategie in einer irrationalen Welt. Keynes beschäftigte sich ausgiebig mit dem Unterschied zwischen dem Risiko im Sinne von mathematischen Wahrscheinlichkeitskalkulationen – genau das, worum es hier geht – und dem Phänomen der Ungewissheit, jenen Elementen des Lebens und der Menschheitsgeschichte, die auf viel tiefer greifende Weise nicht erfassbar sind. Man kann das Risiko zwar irgendwie steuern, indem man Wahrscheinlichkeiten kalkuliert und sie mit einplant, aber Unabwägbarkeiten kann man nicht steuern, jedenfalls nicht mit einer präzis berechenbaren Methode. Sobald man Risiko und Ungewissheit miteinander verwechselt,hat man sich selbst eine ziemlich böse Falle gestellt. Genau das ist bei LTCM geschehen. Sie waren in eine Kluft geraten und hatten sich dort verfangen. Es war die Kluft zwischen dem mathematisch einschätzbaren Risiko, so wie es in ihren herrlichen Modellen zum Tragen kam, und einem richtig fiesen Hereinbrechen vonUngewissheiten, wie

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