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Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Titel: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchester
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sie die Wirklichkeit so mit sich bringt. Dieser Realitätseinbruch nahm eine Gestalt an, mit der niemand gerechnet hatte – was Unabwägbarkeiten öfter tun –, und das war die russische Zahlungsunfähigkeit.
    Das Ganze wäre ohne die Existenz von Derivaten niemals passiert. In ihrer heutigen Form sind sie die mächtigsten und kompliziertesten Finanzinstrumente, die jemals erfunden wurden. Und sie sind überall. Über eine Billion Dollar an Derivaten werden jeden Tag gekauft und verkauft – viele von ihnen in London. Jedes einzelne Produkt, das sich irgendwie als Derivat handeln lässt, wird auch als Derivat gehandelt. Oder um es mit den Worten von Warren Buffett zu sagen, dem wohl genialsten Börseninvestor unserer Zeit: »Die Palette der Derivatkontrakte ist allein durch die menschliche Fantasie begrenzt (oder wie es einem manchmal vorkommt, durch die Fantasie von Wahnsinnigen). Beim Enron-Konzern nahm man zum Beispiel Derivate von Druckerschwärze und Breitbandanschlüssen in die Bilanz auf, deren Laufzeit weit in die Zukunft reichten. Oder nehmen wir mal an, Sie wollten einen Kontrakt aufstellen, in dem Sie über die Anzahl von Zwillingen spekulieren, die im Jahr 2020 in Nebraska geboren werden. Kein Problem – für den passenden Preis finden Sie ganz leicht einen bereitwilligen Vertragspartner.« Viele Firmen, die den Anschein erwecken, als drehe es sich bei ihren Geschäften um etwas ganz anderes, handeln in Wirklichkeit mit Derivaten. Enron ist das bekannteste Beispiel dafür. Buffett hat eine wahre Derivate-Phobie, nicht zuletzt deshalb, weil er immer gern genau darüber Bescheid weiß, was in den Firmen vor sich geht, in die er investiert. Derivate machen eben das jedoch so gut wie unmöglich. Es ist geradezu unheimlich, wie genau Buffett die Ereignisse vorausgeahnt hat. Damals, im Jahr 2002, schrieb er:
    Der dienstbare Geist der Derivate ist nun unwiderruflich aus der Flasche gefahren. Diese Instrumente werden sich mit ziemlicher Sicherheit vermehren, und das nicht nurzahlenmäßig, sondern auch in ihrer Vielfalt, bis schließlich irgendetwas geschieht, das allen klarmacht, wie hochgiftig sie sind. Die Elektrizitäts- und Gasunternehmen wissen mittlerweile nur zu gut um ihre Gefahr. Dort haben die von Derivaten verursachten Schwierigkeiten dazu geführt, dass kaum noch jemand damit handelt. Aber überall sonst dehnt sich das Derivategeschäft vollkommen ungehindert aus. Die Zentralbanken und Regierungen schaffen es bis heute nicht, die Risiken, die diese Kontrakte darstellen, effektiv in den Griff zu bekommen oder überhaupt zu überschauen.
    Buffett behielt mit diesen Worten auf geradezu erschreckende Weise recht. Ironischerweise kommt in diesem Zitat jene Spielart der Derivate, die schließlich die größte Zerstörun gee Zerstgskraft entwickeln sollte, gar nicht vor: die Credit Default Swaps nämlich (Kreditausfallversicherung), auch CDS genannt. Ich werde in diesem Buch etliche Schuldige nennen, die für den Crash verantwortlich waren, und Derivate stehen dabei ziemlich weit oben auf der Liste. Aber unter den Derivaten gibt es einen Hauptübeltäter, den Bandenführer, den Mafiaboss, die schlimmste Massenvernichtungswaffe von allen. Ähnlich wie einige andere Schuldige an dieser Krise waren die Credit Default Swaps etwas vollkommen Neues. Sie waren von Bankern erfunden worden, die immer neuere, atemberaubendere Möglichkeiten suchten, um immer neuere, atemberaubendere Profite zu machen.
    Als ich begann, mich mit der Finanzwelt zu beschäftigen, fand ich es sehr schwierig, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Finanzinstrumente tatsächlich »erfunden« werden, dass sie ganz ähnlich ausgetüftelt werden wie Kunstwerke oder wissenschaftliche Theorien. Aber genauso ist es. Credit Default Swaps sind kompliziert, aber auch sie beruhen auf einer sehr alten Idee, und zwar auf einer wesentlich älteren Form von Tauschgeschäft (Swap). Nehmen wir an, Sie hätten einen Lebensmittelladen und sähen recht schwarz, was Ihre Geschäftsaussichten angeht. Ihr Nachbar direkt nebenan betreibt ein Schreibwarengeschäft und denkt ähnlich pessimistischüber seine eigenen Aussichten, hält Ihre jedoch für wesentlich besser. Sie kommen darüber ins Gespräch und einer von Ihnen hat eine brillante Idee: Warum tauschen wir nicht einfach unsere Geschäftseinnahmen aus? Sie bekommen den Jahresgewinn seines Geschäfts und er bekommt Ihren. Sie fahren beide einfach mit Ihrer Arbeit fort – aber Sie einigen sich darauf,

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