Warum Liebe Weh Tut
verständlich und wiederholen sich. Begründet ist dies in der ausgesprochenen Auffälligkeit und Präsenz der kulturell verfügbaren Bilder der Liebe: Sie sind in einer Unmenge kultureller Arenen anzutreffen (in Werbung, Filmen, Unterhaltungsliteratur, Hochliteratur, 380 Fernsehen, Musik, dem Internet, Selbsthilfebüchern, Frauenzeitschriften, religiösen Erzählungen, Kinderbüchern, Opern); Liebesgeschichten und -bilder stellen die Liebe als ein Gefühl dar, das dem Glück und damit dem wünschenswertesten Zustand überhaupt dienlich ist; die Liebe wird mit Jugend und Schönheit assoziiert, den am meisten bewunderten sozialen Eigenschaften unserer Kultur; sie gilt als Kern der normativ am stärksten gebotenen Institution (der Ehe); und in säkularen Kulturen macht die Liebe Sinn und Ziel der Existenz aus. Zudem ist sie mit Situationen, Gesten oder Worten potentiell erotischen Charakters assoziiert, die einen besonderen Zustand emotionaler und physiologischer Erregung hervorrufen können, was wiederum zur Lebendigkeit dieser Bilder für ihre Konsumenten beiträgt. Kurz gesagt: Diese verschiedenen Bedingungen – kulturelle Verbreitung, kulturelle Resonanz, kulturelle Legitimität, kulturelle Sinnhaftigkeit, Realismus und körperliche Erregung – erklären, warum die geistige Bilderwelt der Liebe dazu angetan ist, sich auf besonders lebhafte Weise in unsere kognitive Welt einzuschreiben. Wie formulierte es Anna Breslaw in der »Modern Love«-Kolumne der New York Times ?
Aufgrund der auffälligen Abwesenheit von Männern in meiner Familie waren die Männer in der Videosammlung meiner Tante jahrelang die einzigen, die ich kannte, und stürmische Romanzen mit erlösenden, schwer erkämpften Happy-Ends die einzigen Beziehungen, die ich zu sehen bekam. […] [Ich bin] darauf konditioniert, nette Männer an mir abprallen zu lassen und nur dann jemanden leidenschaftlich zu küssen, wenn im Hintergrund meine Stadt in Flammen steht. [27]
381 Narrative Identifikation
Geistige Bilder prägen Gefühle durch Vorwegnahme, durch vorgreifende Gefühle, wie wir sie nennen können. Dies liegt daran, daß Lebhaftigkeit eine Eigenschaft von Geschichten ist, die starke Mechanismen der Identifikation mit Handlungsverläufen und Figuren auslösen. Moderne Gefühle sind fiktional aufgrund der Vorherrschaft von Erzählungen, Bildern und Simulationstechniken zur Konstruktion und Manipulation von Sehnsüchten. Wir alle sind Emma Bovary in dem Sinne, daß unsere Gefühle tief in fiktionale Erzählungen eingebettet sind: Sie entwickeln sich in Geschichten und als Geschichten. Wenn »wir alle in unserem Leben Erzählungen ausleben und unser Leben mit Hilfe der Erzählungen, die wir ausleben, verstehen«, [28] dann können wir sagen, daß die narrative Form unserer Gefühle – vor allem jener der romantischen Sorte – von Geschichten aus den Medien und der Konsumkultur geschaffen und in Umlauf gebracht wird. Gefühle sind unauflöslich mit Fiktion verwoben, das heißt, sie werden als erzählte und erzählerische Lebensprojekte gelebt. Was es diesen Gefühlen ermöglicht, sich zu Erzählungen zu entwickeln, ist die Tatsache, daß sie sich in Geschichten entfalten, die starke Identifikationsmechanismen in Gang setzen.
Um die fiktionale Identifikation näher einzugrenzen, schlägt Keith Oatley zwei Definitionen von Identifikation vor:
Bedeutung 1 ist (Wieder-)Erkennung, Bedeutung 2 Nachahmung. Freuds Vorstellung von Identifikation zufolge erfährt eine Person von einer Handlung und identifiziert (Bedeutung 1) in sich einen Grund für sie oder ein Verlangen nach ihr. Dann wird besagte Person durch 382 eine Art unbewußten Rückschluß von ihrem Verlangen zu derselben Art Verhalten oder Haltung hingezogen, ahmt sie nach (Bedeutung 2) und wird jener Person ähnlich, die Vorbild für die Nachahmung war. [29]
Für Oatley ist Identifikation der Kern dessen, was er Simulation nennt – worunter er versteht, daß wir die Gefühle der Protagonisten eines Romans simulieren, nicht viel anders als Simulationen, die auf einem Computer laufen. Einfühlung, Identifikation und Simulation vollziehen sich durch vier grundlegende Prozesse: Wir machen uns die Ziele des Protagonisten zu eigen (»ein Plot ist die Ausarbeitung solcher Pläne in der durch die Geschichte gegebenen Welt«, oder, anders gesagt, sich auf einen Plot einzulassen heißt, einen spezifischen Weg zu ersinnen, um Absichten mit Zielen zu verknüpfen); wir stellen uns
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