Warum Liebe Weh Tut
der Ausbildung von Identitäten und einem guten Leben. In der 375 Konsumkultur wird es mit anderen Worten immer schwieriger, die Phantasien über eine Ware (etwa ein sportliches Auto) von den Phantasien zu trennen, mit denen das Objekt unermüdlich assoziiert wird (Sex mit einer schönen Frau). Eine zweite Quelle der Tagträumerei ist eine doppelte: Sie umfaßt die über Druck- und Bildmedien verbreiteten Geschichten und Bilder von schönen Menschen, die, meistens erfolgreich, nach emotionaler Glückseligkeit streben; solche Charaktere verkörpern narrative Skripte und Bildwelten, die die Struktur ihrer Liebesgefühle bestimmen. Und schließlich ist seit den 1990er Jahren das Internet eine Einrichtung zur Mobilisierung des Vorstellungsvermögens, ermöglicht das Netz es doch, das Selbst imaginär in einer Fülle von Formen zu projizieren und in der Vorstellung echte Erlebnisse zu simulieren. Alle vier Medien – Waren, narrative Handlungssequenzen, Bilder und Websites – tragen auf je eigene Weise dazu bei, das moderne Subjekt als begehrendes Subjekt zu positionieren, als ein Subjekt, das sich nach Erfahrungen sehnt, von Gegenständen oder Lebensformen tagträumt und in imaginärer und virtueller Weise Erfahrungen macht. Das moderne Subjekt nimmt seine Wünsche und Gefühle in wachsendem Maß auf imaginäre Weise durch Waren, Medienbilder, Geschichten und Technologien wahr, und diese diversen Vermittlungen wirken sich wiederum auf die Struktur des Begehrens – darauf, was begehrt wird und wie es begehrt wird – sowie auf die psychische Rolle des Begehrens aus. Die Phantasie wird zu einer Form, die durch Konsumgütermarkt und Massenkultur institutionalisierten Gelüste und Gefühle zu erfahren.
Ich schlage die folgende soziologische Definition der Vorstellungs- oder Einbildungskraft als einer organisierten und institutionalisierten Praxis vor: Sie ist sozial organisiert – so können beispielsweise die Vorstellungen von Männern und Frauen auf unterschiedliche Weise angeregt werden und unterschiedliche Gegenstände umfassen (etwa Liebe für 376 Frauen, gesellschaftlichen Erfolg für Männer). Sie ist institutionalisiert – das heißt, sie wird in gedruckter und visueller Form durch bestimmte kulturelle Genres und Technologien stimuliert und verbreitet – und betrifft institutionalisierte soziale Bereiche wie Liebe, Familienleben und Sex. Sie ist ihrem kulturellen Inhalt nach systematisch und hat eine klare kognitive Form – das heißt, sie dreht sich um altbekannte narrative Formeln und visuelle Klischees. Sie hat soziale Folgen – etwa die Entfremdung vom eigenen Ehemann oder das Gefühl, das eigene Leben sei öde. Sie ist in emotionalen Praktiken verkörpert – vorgreifenden und fiktionalen Gefühlen, die das Gefühlsleben auf bestimmte Weisen mit dem realen Leben verbinden. Das Vorstellungsvermögen ist somit eine soziale und kulturelle Praxis, die einen erheblichen Teil dessen ausmacht, was wir Subjektivität – Wollen und Begehren – nennen. Sie formt das Gefühlsleben und beeinflußt die Wahrnehmung des Alltags.
Fiktionale Gefühle
Um über den emotionalen und kognitiven Prozeß nachzudenken, der durch die Vorstellungskraft ausgelöst wird, müssen wir bei der immensen Bedeutung von Fiktionen für die Sozialisation ansetzen. Die Vorstellungskraft ist für eine Kultursoziologie der Liebe von besonderem Interesse, weil sie so tief mit Fiktion und Fiktionalität verwoben ist und weil institutionalisierte Fiktionen (im Fernsehen, in Comics, Filmen und Kinderbüchern) für die Sozialisation so zentral geworden sind. Diese Fiktionalität prägt das Selbst, nämlich die Art und Weise, wie es sich selbst narrativ modelliert, durch Geschichten lebt und die Gefühle begreift, die das Lebensprojekt eines Menschen ausmachen. Einer der entscheidenden, aber noch zu wenig erforschten Gegenstände der Kultursoziologie ist die Frage, wie Ideen von Gefühlen 377 durchdrungen werden und umgekehrt wie Gefühle einen ideellen, narrativen und fiktionalen Inhalt absorbieren. Dieser Prozeß ist in dem enthalten, was ich als fiktionale emotionale Vorstellung bezeichne.
Genaugenommen ist eine »fiktionale Vorstellung« jene Art Vorstellung, die bei der Lektüre oder Interaktion mit fiktionalem Material entfaltet wird und ihrerseits Gefühle hervorbringt. Im Zusammenhang mit der Lektüre fiktionaler Texte definiert Bijoy Boruah die Vorstellungskraft als eine »Sorte nichtbehaupteten Denkens – eine Wahrheit, die der
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