Warum Liebe Weh Tut
eine Welt vor beziehungsweise eine Welt, die man sich vorstellen kann, wird in lebhafter Weise dargestellt; der Erzähler verleiht der Erzählung durch Sprechakte, die an seine Leserschaft gerichtet sind, zusätzliche Glaubwürdigkeit; und wir synthetisieren die verschiedenen Elemente der Geschichte zu einem »Ganzen«. Oatley zufolge empfinden wir Gefühle durch diesen vierfachen Prozeß der Identifikation und Simulation. Mit anderen Worten: Die Vorstellungskraft ruft durch kulturell verschriftete Erzählungen Gefühle hervor, die die Mechanismen der Identifikation mit Charakteren, Handlungsabläufen, den Absichten der Charaktere sowie die sich daraus ergebende gefühlsmäßige Simulation in Gang setzen. Dieser Mechanismus, der anschließend um visuelle Lebhaftigkeit ergänzt wird, bewirkt, daß manche erzählten Szenen in unsere geistigen Schablonen eingeschrieben werden und daher geeignet sind, zu einem Bestandteil unserer persönlichen Weise des Imaginierens und Vorwegnehmens zu werden. Insoweit 383 wir vielen unserer eigenen Gefühle in der und durch die Medienkultur begegnen, können wir sagen, daß ein Teil unserer emotionalen Sozialisation fiktional ist: Am Ende entwickeln und antizipieren wir Gefühle durch die wiederholten kulturellen Szenarien und Geschichten, denen wir begegnen. Wir nehmen also schließlich vorweg, durch welche Regeln Gefühle ausgedrückt werden, wie wichtig manche Gefühle für unsere Lebensgeschichten sind und mit welchem Vokabular und welcher Rhetorik diese Gefühle ausgedrückt werden.
Fiktionale Gefühle entstehen durch den Mechanismus der Identifikation – mit Charakteren und Handlungen –, der durch Schablonen oder Schemata zur Einschätzung neuer Situationen, zum Sinnieren über Ereignisse des Lebens und zu ihrer Vorwegnahme ausgelöst wird. In diesem Sinne liefert die imaginäre Vorwegnahme die Schablonen für die fiktionalen Gefühle, die die Grundlage von Lebensprojekten bilden. Diese einem »Drehbuch« folgende Vorwegnahme modelliert die geplante Erzählung, mit deren Hilfe wir neu eintretende Lebensereignisse, die anschließend an die Erzählung angehefteten Gefühle sowie das voraussichtliche Ziel der Erzählung ordnen. Deshalb sind Lebensprojekte in fiktionale Gefühle eingebettet und umgekehrt.
Mit einem Schuß Selbstironie verriet mir Bettina, eine 37jährige Übersetzerin, in einem Interview:
BETTINA : Wenn ich einen Mann kennenlerne, dann stelle ich mir nach dem zweiten oder dritten Treffen, manchmal sogar noch davor, kaum zu glauben, die Hochzeit vor, das Hochzeitskleid, die Einladungskarten, manchmal sogar nur wenige Minuten, nachdem ich ihm zum ersten Mal begegnet bin.
INTERVIEWERIN : Ist das ein schönes Gefühl?
BETTINA : Ja und nein; ja, weil es grundsätzlich toll ist, sich etwas auszumalen, was es auch sei, ich liebe es zu phantasieren; manchmal aber gehe ich völlig darin auf, ohne es überhaupt zu wollen, ich wäre gerne vorsichtiger, hätte die ganze Sache gerne besser im Griff, aber meine Phantasien, dieser rührselige Kitsch in meinem Kopf bringen mich immer an Orte, an denen ich gar nicht sein möchte.
384 INTERVIEWERIN : Was für ein »rührseliger Kitsch«?
BETTINA : Daß irgendwie die große Liebe auf mich wartet, ich sehe das ganze Drehbuch vor mir, abends händchenhaltend zusammensitzen, ein Glas Champagner trinken, zusammen an aufregende Orte reisen, es wie verrückt miteinander treiben, einfach ein tolles Leben haben, großartigen Sex, wissen Sie, wie im Kino.
Wie diese Frau sagt, ist sie unfähig, ihr Hingezogensein zu einem Mann nicht als eine Geschichte zu erleben, die sich eigenmächtig in ihrer Vorstellung entfaltet – im Sinne einer emotionalen Intensität, die sie gleichsam überkommt. Was diese Vorstellungen und die dazugehörigen Gefühle jedoch entzündet, ist der geistige Probedurchlauf wohlkodifizierter Bilder und narrativer Skripte.
Auf ähnliche Weise berichtet Catherine Townsend von der Begegnung mit einem früheren Freund und ihrer Hoffnung, die Beziehung mit ihm wiederaufleben zu lassen. Sie beschreibt ihre Gemütsverfassung vor dem Treffen in einer Form, die sowohl auf die Lebhaftigkeit ihrer vorgreifenden geistigen Bilder als auch auf deren Vermögen, die Wirklichkeit in eine enttäuschende Erfahrung zu verwandeln, schließen läßt.
Daß ich von britischen Männern besessen bin, verdanke ich der Figur, die Hugh Grant in Vier Hochzeiten und ein Todesfall spielt. Grant lehrte mich, daß diese noch so
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