Warum Liebe Weh Tut
Wahrheit auf referentieller Ebene gegenüber indifferent ist und lediglich in Erwägung gezogen wird«. [24] Nichtbehauptete Überzeugungen sind Überzeugungen über Handlungen und Charaktere, von denen wir wissen, daß sie nicht existieren. Doch, fährt Boruah fort, diese »nichtbehaupteten Überzeugungen« – Vorstellungen – rufen reale Gefühle hervor. Boruah stellt die These auf, fiktionale Vorstellungen könnten durch eine bestimmte Untermenge von Gefühlen, die er »fiktionale Gefühle« nennt, Handlungen auslösen. Zweifellos sind fiktionale Gefühle solchen des »realen Lebens« benachbart – sie ahmen sie nach –, doch sind sie ihnen nicht gleichgestellt, insofern sie durch Dinge ausgelöst werden können, von denen wir wissen, daß sie nicht real oder sogar unmöglich sind (»am Ende von Anna Karenina muß ich immer weinen, obwohl ich weiß, daß sie nie existiert hat«, »ich bin in bester Stimmung aus dem Kino gekommen, weil sich die Hauptfiguren am Ende versöhnt haben«). Fiktionale Gefühle können denselben kognitiven Inhalt haben wie echte Gefühle: Man kann sich im Kino vor einer Seuche ekeln oder über den Verrat eines engen Freundes empören. Doch werden diese fiktionalen Gefühle dadurch hervorgerufen, daß wir uns auf ästhetische Formen einlassen, und sie sind selbstreferentiell – das heißt, sie verweisen auf das Selbst 378 zurück und sind nicht Teil einer fortlaufenden und dynamischen Interaktion mit einem anderen. In diesem Sinne sind sie weniger verhandelbar als die Gefühle des wirklichen Lebens, was der Grund dafür sein mag, daß sie über ein in sich geschlossenes Eigenleben verfügen. Diese fiktionalen Gefühle wiederum sind die Bausteine für die kulturelle Aktivität der Einbildungskraft. Man bildet sich Gefühle ein und nimmt Gefühle vorweg, die dadurch ausgelöst wurden, daß wir Medieninhalten ausgesetzt sind.
Die Bilder und Geschichten der Liebe lassen sich auf einige wenige Schlüsselerzählungen und -motive eindampfen: Die Liebe wird als ein starkes Gefühl vorgeführt, das den Handlungen der Akteure nicht nur Sinn verleiht, sondern sie auch von innen heraus motiviert. Sie ist in vielerlei Hinsicht die ultimative Motivation für einen Handlungsstrang. Die Liebe wird als eine Kraft gezeigt, die innere oder äußere Hindernisse überwindet, als ein Zustand der Glückseligkeit; Figuren verlieben sich auf den ersten Blick, und oft ist es ihr gutes Aussehen, das Zuschauer und Liebende verbindet. Die Liebe wird in klaren und wiedererkennbaren Ritualen ausgedrückt; die Männer lieben das Reich der Frauen und ergeben sich ihm rasch; die Menschen sind mit ihren Gefühlen auf Tuchfühlung und handeln nach ihnen; und die Liebe geht für gewöhnlich mit perfekter körperlicher Liebe in schöner Umgebung einher.
Aus fiktionalen Gefühlen – wie sie entstehen, wenn wir uns mit Geschichten und Figuren identifizieren – bilden sich irgendwann die kognitiven Schablonen vorgreifender Gefühle. Damit Gefühle durch erfundene Skripte geprägt werden können, muß eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein.
379 Lebendigkeit
Das vielleicht offensichtlichste Charakteristikum der modernen Einbildungskraft besteht in ihrer hohen »Auflösung« oder Lebendigkeit. Kendall Walton zufolge ist diese Lebendigkeit der wichtigste Grund dafür, daß fiktionale Inhalte Gefühle hervorrufen. [25] Unter Lebendigkeit ist das Vermögen mancher Darstellungen zu verstehen, geistige Prozesse dadurch auszulösen, daß sie anschauliche Objekte heraufbeschwören, von ihnen handeln und sie zueinander in Beziehung setzen. Bilder erzeugen einen lebendigen Inhalt, weil sie die Visualisierung einer vorausgreifenden Erfahrung ermöglichen und sie mit gefühlsmäßiger Bedeutung aufladen. Manche Forscher behaupten, Bilder riefen mehr Gefühle hervor als sprachliche Inhalte, was uns zu der Spekulation verleitet, daß es eher der visuelle Charakter vieler Geschichten in den Massenmedien ist, der Emotionen stimuliert, als ihr sprachlich vermittelter Inhalt. [26] Zudem wird Lebendigkeit durch Realismus akzentuiert, den man seinerseits oft mit Visualität assoziiert. Nicht umsonst ist der Realismus der vorherrschende Stil in der zeitgenössischen visuellen Kultur. Und schließlich sind fiktionale Gefühle mit einiger Wahrscheinlichkeit besonders lebhaft, wenn sie Bilder durchspielen, die über große Resonanz verfügen. Die geistigen Bilder, in die man Vorstellungen über die Liebe kleidet, sind klar
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