Warum Liebe Weh Tut
im Reich der Liebe eine bedeutende Quelle von Leiden ist.
387 Enttäuschung als kulturelle Praxis
Soziobiologen, die Panglosse unserer Zeit, würden die Assoziation von Phantasie und Enttäuschung als Folge zwangsläufiger chemischer Mechanismen erklären, die höheren evolutionären Zwecken dienen. Bei Verliebten schüttet das Gehirn verschiedene chemische Substanzen aus, die Euphorie sowie die Neigung hervorrufen, über jemanden zu phantasieren. [32] Weil diese Substanzen nur begrenzte Zeit (bis zu zwei Jahre) im Körper bleiben, verwandeln sich romantische Phantasien und euphorische Stimmungen alsbald entweder in eine unaufgeregte Anhänglichkeit oder, für manche, in eine Enttäuschung. Verbreiteter dürfte die Auffassung sein, daß die Liebe stärker noch als andere Gefühle ebenso hartnäckig mit der Gegenwart eines anderen in institutionalisierten, routinierten Zusammenhängen zurechtkommen, wie sie den Übergang von Intensität zu Kontinuität, von Neuheit zu Vertrautheit meistern muß. Die »Enttäuschung« wird dadurch zu einem existentiell unverbrüchlichen Bestandteil der Liebeserfahrung.
Ich meine, daß die Enttäuschung über den eigenen Partner, das eigene Leben, den eigenen Mangel an Leidenschaft nicht nur eine psychologische und private Erfahrung oder ein Ausdruck unserer Determiniertheit durch Hormone ist, sondern auch ein vorherrschendes kulturelles Motiv hinsichtlich des Gefühlslebens. Marshall Berman versteht den Unterschied zwischen vormoderner und moderner Identität wie folgt: » [D]er Mensch, dessen ganzes zukünftiges Leben vom Augenblick seiner Geburt an für ihn festgelegt ist, der nur auf die Welt kam, um eine bereits vorhandene Nische auszufüllen, wird mit wesentlich geringerer Wahrschein 388 lichkeit enttäuscht sein als der in unserem System lebende Mensch […], in dem seinem Streben keine sozialen Grenzen gesetzt sind.« Denn obwohl »die Zugehörigkeit zu einer rigide organisierten Gesellschaft dem Individuum die Gelegenheit vorenthalten mag, seine speziellen Talente zu erproben, verleiht sie ihm eine gefühlsmäßige Sicherheit , die uns Heutigen praktisch unbekannt ist«. [33] Den Gedanken, daß modernen Beziehungen gefühlsmäßige Sicherheit abgeht, kann man auch so formulieren, daß sie stets am Rande der Enttäuschung operieren.
Doch ist es nicht nur die Enttäuschung, sondern die Vorwegnahme der Enttäuschung, die ein Kennzeichen der modernen Liebe ist. Wie es eine Protagonistin in Sex and the City ausdrückt: »Immer, wenn ein Mann mir sagt, er sei romantisch veranlagt, möchte ich schreien […]. Es bedeutet nur, daß ein Mann eine romantische Vorstellung von dir hat, und sobald du real wirst und aufhörst, seine Phantasien zu füttern, hat er keine Lust mehr. Das macht Romantiker so gefährlich. Bleib bloß weg von denen.« [34] In ihrer Vorwegnahme der Enttäuschung des Mannes bringt diese Romanfigur die Modernität ihrer Vorwegnahme der Enttäuschung eines anderen (oder ihrer eigenen Enttäuschung) zum Ausdruck. Moderne Menschen unterscheiden sich von Emma Bovary genau darin, daß sie ihre eigene Enttäuschung und die der anderen vorwegnehmen.
Meine These lautet: Damit Tagträumerei und Vorstellungskraft enttäuschen können, müssen sie auf bestimmte Weise mit dem Realen verbunden sein. Damit meine ich, daß es eine bestimmte Weise – und Schwierigkeit damit – geben muß, vom Imaginären zum Realen überzugehen.
In seinem berühmt gewordenen Buch Die Erfindung 389 der Nation [35] argumentiert Benedict Anderson, die Art und Weise, wie Gemeinschaften – oder Nationen – erfunden werden, unterscheide sich nicht danach, ob sie wahr oder falsch seien, sondern anhand ihres Stils . Die Einbildungskraft – oder der kulturell und institutionell organisierte Einsatz der Phantasie – ist keine abstrakte oder universelle Aktivität des menschlichen Geistes. Sie verfügt vielmehr über eine kulturelle Form, die sie in bestimmter Form mit dem Realen verbindet. Das heißt, daß mit dem Gebrauch der Einbildungskraft nicht von Haus aus eine Enttäuschung verbunden sein muß. Dies läßt sich gewissermaßen im Umkehrschluß anhand der Art und Weise veranschaulichen, wie das Vorstellungsvermögen im Mittelalter funktionierte. Die mittelalterliche Phantasie war von der Hölle und dem Paradies beherrscht. Das Paradies war ein Ort des Fließens und Überflusses, der als geographischer Raum und nicht als Geschichte mit einer klaren Erzähllinie definiert und
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