Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut (German Edition)
Die extraktiven Wirtschaftsinstitutionen des absolutistischen Äthiopischen Reiches, etwa das gult -System und der nach dem Untergang von Axum geschaffene Feudalismus, hatten bis zur Revolution von 1974 Bestand.
Heutzutage ist Äthiopien eines der ärmsten Länder der Welt. Das Einkommen eines durchschnittlichen Äthiopiers macht ungefähr ein Vierzigstel der Einnahmen eines durchschnittlichen britischen Bürgers aus. Die Menschen wohnen überwiegend auf dem Lande und betreiben eine Subsistenzwirtschaft. Sie müssen auf sauberes Wasser, Strom, brauchbare Schulen und ein funktionierendes Gesundheitswesen verzichten. Die Lebenserwartung liegt bei rund fünfundfünfzig Jahren, und nur ein Drittel der Erwachsenen ist des Lesens und Schreibens mächtig. Eine Gegenüberstellung von England und Äthiopien veranschaulicht die Weltungleichheit. Äthiopien befindet sich in seinem gegenwärtigen Zustand, weil der Absolutismus dort, anders als in England, bis in die jüngere Vergangenheit andauerte. Er wurde von extraktiven Wirtschaftsinstitutionen und Massenarmut gekennzeichnet, obwohl der Kaiser und der Adel natürlich gewaltige Gewinne einstrichen. Die nachhaltigste Auswirkung des Absolutismus bestand darin, dass die äthiopische Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Chancen der Industrialisierung nicht nutzen konnte, womit das heutige Elend seiner Bürger unvermeidlich wurde.
Die Kinder von Samaale
Überall auf der Welt behinderten absolutistische politische Institutionen die Industrialisierung – entweder indirekt, nämlich durch die Organisation der Wirtschaft, oder direkt wie in Österreich-Ungarn und Russland. Der Absolutismus war jedoch nicht die einzige Schranke auf dem Weg zu inklusiven Wirtschaftsinstitutionen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in vielen Teilen der Welt, besonders in Afrika, keinen Staat, der auch nur ein Minimum an Recht und Ordnung – die Voraussetzung für eine moderne Wirtschaft – garantieren konnte. Es fehlte an einem Pendant zu Peter dem Großen, der den Prozess der politischen Zentralisierung in Russland einleitete und dann den russischen Absolutismus aufbaute. Gar nicht zu reden von den Tudors in England, die den Staat zentralisierten, ohne das Parlament und andere Einschränkungen ihrer Macht vollauf beseitigen zu können. Ohne einen gewissen Grad an politischer Zentralisierung war es unmöglich, die Industrialisierung durchzusetzen, selbst wenn die Eliten jener afrikanischen Staaten sie mit offenen Armen begrüßt hätten.
Somalia, am Horn von Afrika gelegen, zeigt die verheerenden Folgen des Fehlens politischer Zentralisierung. Es wird traditionell von sechs Clanfamilien dominiert. Die vier größten – Dir, Darod, Isaq und Hawiye – führen ihre Ursprünge auf einen mythischen Vorfahren namens Samaale zurück. Diese Clanfamilien entstanden im Norden Somalias und breiteten sich allmählich nach Süden und Osten aus. Noch heute sind sie hauptsächlich Hirten, die mit ihren Ziegen-, Schaf- und Kamelherden umherwandern. Im Süden gibt es noch zwei weitere Clanfamilien aus sesshaften Bauern, die Digil und die Rahanweyn. Die Territorien der Clans sind auf Karte 12 abgebildet.
Die Somalier identifizieren sich in erster Linie mit ihren Clanfamilien, die jedoch sehr groß sind und viele Untergruppen enthalten. Eine besondere Bedeutung haben die diya -zahlenden Gruppen, die aus unmittelbaren Verwandten bestehen. Sie zahlen und empfangen diya (»Blutgeld«), das heißt Entschädigungen für die Ermordung von Angehörigen. Somali-Clans und diya -zahlende Gruppen waren fast ständig in Konflikte um ihre kargen Ressourcen verwickelt, insbesondere um Wasserquellen und gutes Weideland für ihre Tiere. Außerdem überfielen sie unablässig die Herden benachbarter Clans und diya -zahlender Gruppen.
Die Führer der Clans, die als Sultane oder Älteste bezeichnet wurden, besaßen keine wirkliche Macht. Diese war vielmehr sehr breit gestreut, denn jeder erwachsene Mann konnte sich bei Entscheidungen, die seinen Clan oder seine Gruppe betrafen, zu Wort melden. Zu diesem Zweck gab es einen informellen Rat, der sich aus allen männlichen Erwachsenen zusammensetzte. Man hatte keine schriftlich fixierten Gesetze, keine Polizei und keine nennenswerte Rechtsordnung, doch wurde die Scharia als Rahmen für die informellen Gesetze benutzt. Sie waren für die jeweilige diya -zahlende Gruppe in einem heer festgelegt, einer Sammlung explizit formulierter Rechte und Pflichten, welche
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