Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut (German Edition)
auf demselben Stück Land viel mehr Nahrung liefert.
Die frühesten Anzeichen für Ackerbau, Viehzucht und die Domestizierung von Pflanzen und Tieren stammen aus dem Nahen Osten, insbesondere aus der als Hilly Flanks (»Hügelige Flanken«) bekannten Gegend, die sich vom Süden des heutigen Israel durch Palästina und das Westjordanland bis hinauf nach Syrien und in die südöstliche Türkei, den nördlichen Irak und den westlichen Iran erstreckt. Die ersten Funde von domestizierten Pflanzen, nämlich Emmer und zweizeilige Gerste, in Jericho am Westufer des Jordan werden auf etwa 9500 v.Chr. datiert; weiter nördlich im syrischen Tell Aswad, wurden Emmer, Erbsen und Linsen angebaut. Beide Fundstätten gehörten der natufischen Kultur an und umfassten große Dörfer; das Dorf Jericho hatte damals schätzungsweise fünfhundert Einwohner.
Warum entstanden die ersten Bauerndörfer hier und nicht anderswo? Warum waren es die Natufier und nicht andere Völker, die Erbsen und Linsen kultivierten? Hatten sie Glück und lebten zufällig gerade dort, wo es viele für die Domestizierung geeignete Arten gab? Das mag zutreffen, doch auch viele andere Menschen lebten in der Nähe solcher Pflanzen, ohne sie anzubauen. Wie im zweiten Kapitel auf den Karten 4 und 5 zu sehen, können Genetiker und Archäologen nachweisen, dass viele Wildformen heutiger Nutztiere und -pflanzen über Millionen von Quadratkilometern, nämlich überall in Eurasien, verstreut waren. Die Hilly Flanks (obwohl besonders reichlich mit wilden Nutzpflanzen ausgestattet) dürften keineswegs einzigartig gewesen sein.
Die Natufier waren nicht deshalb etwas Besonderes, weil sie in einer Gegend mit außerordentlich vielen Wildarten lebten, sondern weil sie sesshaft geworden waren, um dann Pflanzen und Tiere zu domestizieren. Ein Indiz stammt von Gazellenzähnen, die aus Cementum bestehen, einem schichtweise wachsenden Knochengewebe. Im Frühjahr und Sommer, wenn das Cementum am schnellsten wächst, haben die Schichten eine andere Farbe als im Winter. An der Farbe der letzten, vor dem Tod der Gazelle entstandenen Schicht kann man erkennen, ob das Tier im Sommer oder Winter getötet wurde. An natufischen Stätten findet man zu allen Jahreszeiten getötete Gazellen, was auf einen ganzjährigen Aufenthalt hindeutet.
Das Dorf Abu Hureyra am Euphrat ist eine der am intensivsten untersuchten natufischen Siedlungen. Seit fast vierzig Jahren erforschen Archäologen die Ablagerungsschichten des Dorfes. Die Siedlung entstand wahrscheinlich um 9500 v.Chr., und die Bewohner setzten ihr Jäger-und-Sammler-Leben weitere fünfhundert Jahre fort, bevor sie eine Landwirtschaft entwickelten. Archäologen schätzen, dass die Dorfbevölkerung vor dem Beginn des Ackerbaus hundert bis dreihundert Menschen umfasste.
Man kann alle möglichen Gründe aufführen, die es vorteilhaft für eine Gesellschaft machen, sesshaft zu werden. Umherzuziehen ist aufwendig: Kinder und alte Leute müssen getragen werden, und wenn man unterwegs ist, gibt es keine Möglichkeit, Lebensmittel für schlechtere Zeiten zu speichern. Außerdem ließen sich nützliche Geräte für die Ernte und Verarbeitung wild wachsender Pflanzen wie Mahlsteine und Sicheln schwer befördern. Manches deutet darauf hin, dass umherziehende Jäger und Sammler Nahrungsmittel in speziellen Verstecken, etwa in Höhlen, verwahrten. Ein Vorzug von Mais ist der, dass man ihn gut lagern kann – der Hauptgrund dafür, dass er überall in Amerika so intensiv angebaut wurde. Die Möglichkeit, Lebensmittel in größeren Mengen zu speichern und Vorräte anzulegen, muss ein wichtiger Anreiz für den Übergang zu einem sesshaften Leben gewesen sein.
Obwohl es insgesamt vorteilhaft sein mag, sesshaft zu werden, braucht es nicht unbedingt dazu zu kommen. Eine umherziehende Gruppe von Jägern und Sammlern muss sich darauf einigen, oder jemand muss sie dazu zwingen. Manche Archäologen sind der Meinung, dass die zunehmende Bevölkerungsdichte und sinkende Lebensstandards Schlüsselfaktoren für die Sesshaftigkeit gewesen seien. Die natufischen Stätten lassen jedoch keine Anzeichen für eine steigende Bevölkerungszahl erkennen. Auch Skelett- und Zahnbefunde deuten auf keine Verschlechterung der Gesundheit hin. Zum Beispiel führt Nahrungsmittelmangel häufig zu einem unterentwickelten Zahnschmelz (Hypoplasie). Dieser Zustand kommt beim natufischen Volk seltener vor als bei späteren Ackerbauern.
Allerdings hatte ein sesshaftes Leben auch
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