Was allein das Herz erkennt (German Edition)
hörte die Zurufe der anderen Zuschauer nicht mehr. Die Uhr tickte, aber für Martin stand die Zeit plötzlich still.
Ray spielte Martin den Puck zu und die Jagd auf das Tor des Gegners begann.
Die Menge sprang wie auf Kommando auf, brüllte und tobte. Ihre Anfeuerungsrufe ließen das Stadion erbeben, aber Martin nahm sie kaum wahr. Er dachte an seine Mutter und seinen Vater, an seine Frau und die zwei kleinen Mädchen. Gedanken, die ihn beflügelten. Mit neuer Energie preschte er vom linken Flügel los, rannte, statt zu gleiten. Ein vielstimmiger Chor hallte um die Eisbahn wider, stieg zu einem endlosen Crescendo an: »LOS, LOS, LOOOOS!«
Es geschah in dem Moment, als er den Slot erreichte: Eine dunkle Wolke senkte sich herab, nahm ihm die Sicht. Martin holte zum Schlag aus, aber der Puck war weg. Einer seiner Gegner hatte ihn erwischt, ohne dass Martin ihn kommen sah, und er lief damit über das Eis, zum Tor der Bruins.
Er hatte ihn nicht gesehen! Der Schluss-Buzzer ertönte. 4:3. Der Cartier-Fluch hatte gesiegt, die Edmonton Oilers hatten abermals den Stanley Cup gewonnen.
*
Serge schrieb eine weitere Postkarte und schickte sie an seine Schwiegertochter. »Er hat fantastisch gespielt, sein Bestes getan. Du auch. Lass nicht zu, dass er in Trübsal versinkt.« Er wusste, wie schwer Martin die Niederlage nehmen würde.
»He Serge!« Tino kam im Gefängnishof auf ihn zu. Er sprach den Namen auf französische Weise aus: Särsch. Es war ein sonniger Tag und der junge Mann blinzelte.
»Hallo Tino.« Serge blinzelte zurück.
»Dein Sohn hat das Eishockeyspiel verloren.«
»Er hat mehr gewonnen als verloren. Seine Mannschaft hat ihm zu verdanken, dass sie überhaupt bis zu den Stanley Cup Finals gekommen sind.«
»Ja, was auch immer. Ich verstehe nicht viel von Eishockey. Aber ich habe ihn spielen sehen.«
»Schon mal was von den World Series gehört?«
»Ja, kenne ich.«
»Kennst du auch den Super Bowl?«
»Football, ja.«
»Nun, der Stanley Cup ist die World Series und der Super Bowl im Eishockey. Die begehrteste Trophäe im Profisport, der absolute Gipfel. Und Martin hat seine Mannschaft in die Endrunde der Meisterschaften gebracht.«
»Tatsächlich? Das ist ja super.«
»Das hat er von mir geerbt. Das Talent zum Eishockeyspielen. Ich hoffe nur, dass er heute Abend nicht zu hart mit sich ins Gericht geht.«
Der junge Mann nickte. Er schien sich gerne mit Serge zu unterhalten, wenn der alte Mann friedlich gestimmt war; er trug zwar sichtbar ein Päckchen Zigaretten in der Hemdtasche, hatte aber bisher noch keine geraucht.
»Du hast Kinder«, sagte Serge. »Hab sie im Besucherraum gesehen.«
Der junge Mann nickte. »Ricky liebt Baseball; vielleicht wird er eines Tages ein berühmter Pitcher. Ich bin bin auch ein ganz passabler Werfer: Wenn ich richtig loslege, müssen sich sechs Männer hintereinander die Seele aus dem Leib rennen. Du hast deinem Sohn das Talent zum Eishockey mitgegeben, und Ricky hat meine Liebe zum Baseball geerbt.«
Serge dachte an Martin. Er erinnerte sich an die endlosen monotonen Übungen, an eisige Abende auf dem See, während Agnes mit dem Essen wartete, der Mond über dem Berg aufging und das Eis hell erleuchtete. Ray und Martin hatten Schusstechniken geübt, und Serge hatte ihnen beigebracht, harte und gerade Schlagschüsse auf das Tor aus Fichtengeäst abzufeuern. Doch dann hatte Serge einen Vertrag mit einem auswärtigen Club abgeschlossen, hatte sich aus dem Staub gemacht und nicht mehr mit Martin trainiert.
»Ich werde ihm alle Tricks beibringen«, sagte der junge Mann. »Schnelle Würfe, Bogenwürfe, Flatterwürfe –« Er war in Fahrt und feuerte einen imaginären Fastball ab, direkt auf den Wärter.
Serge empfand plötzlich ein grenzenloses Bedauern, als er an seine Frau und seinen kleinen Sohn dachte, die er im Stich gelassen hatte, eingetauscht für eine fragwürdige Freiheit, Hotels und Frauen, den Nervenkitzel, in einer Saison nach der anderen zu siegen. Glückssträhnen, das schnelle Geld beim Wetten, gute Karten, schlechte Karten: eine Berg- und Talfahrt, die in den sonnigen Innenhof eines Gefängnisses geführt hatte. Er hatte die Chance verpasst, für Martin da zu sein, ihm Mut zu machen, dass er den Cup nächstes Jahr immer noch gewinnen konnte.
Als er dem jungen Häftling zuhörte, der davon träumte, ein besserer Vater zu sein, etwas Gutes im Leben seines Sohnes zu bewirken, wurde Serge von Selbsthass ergriffen.
»Hör auf damit!«, knurrte
Weitere Kostenlose Bücher