Was allein das Herz erkennt (German Edition)
nur seinen Atem auf ihrer Wange, seine Arme, die ihren Körper umfingen, die Berührung seiner Finger auf ihrer Haut, seine Lippen auf ihrem Mund, mit einer nie erlebten Intensität.
May fühlte sich überwältigt von dieser neuen Erfahrung, mit Martin Liebe zu machen. Sie hätte so viel Intimität und Nähe nie für möglich gehalten. Sie sprachen nicht, und sie konnte nichts sehen; sie hatte Sehen und Hören gegen die Berührung eingetauscht, gegen eine ganz neue Ebene des Vertrauens und Risikos, die sie in ihrem eigenen Bett und mit ihrem eigenen Ehemann erlebte.
*
Im Laufe der Zeit gelang es Martin und May eine Art von Alltag einkehren zu lassen. Die Reporter verlangten keine Interviews mehr und ließen sie in Ruhe. Die Erinnerung an die schrecklichen letzten Sekunden im Spiel begannen zu verblassen. Ray kam auf einen Sprung vorbei und die beiden Männer saßen auf der Veranda, tranken Bier und sezierten das letzte Spiel wie einen Leichnam.
Während sie in Boston war, hatte May mit Tobin ein gut funktionierendes Kommunikationssystem entwickelt, einschließlich Telefon und Faxgerät, das sie in diesem Sommer von Kanada aus perfektionierten. Sie kamen überein, dass Tobin die neuen Kundinnen von Juni bis September betreuen sollte, während May die bereits angelaufenen Hochzeitsvorbereitungen vom Lac Vert aus überwachte.
Eines Tages, als Martin und Ray beim Angeln waren, lud May Genny und Charlotte ein. Während die Mädchen hinten im Garten spielten, saßen ihre Mütter auf der Veranda vor dem Haus und unterhielten sich.
»Wie verdaut Ray die Niederlage?«, fragte May.
»Jeden Tag ein bisschen besser. Der Name Martin Cartier war in den ersten vierundzwanzig Stunden ein rotes Tuch für ihn.«
»Er macht Martin dafür verantwortlich?«
»Wie alle anderen auch. Er hat den Puck verloren, statt ihn ins Tor zu bringen.«
May runzelte die Stirn; sie wünschte sich, ihre Freundin würde über den Dingen stehen und nicht ihren Mann verurteilen.
»Hochleistungssportler brauchen immer einen Sündenbock. Bestimmt hast du das inzwischen bemerkt. Ray musste häufig herhalten, und die anderen haben auch ihr Fett abbekommen. Jeder macht Fehler. Aber das …«
»War ein großer.« May erinnerte sich an die schrecklichen letzten Sekunden.
»Er sah aus, als wäre er weggetreten, mitten auf dem Eis. Ray sagt, wenn er nicht so wütend wäre, würde er langsam anfangen, sich Sorgen um ihn zu machen.«
»Sorgen? Weswegen?«
»Nun … Martin wirkte wie gelähmt. Als sei er plötzlich zur Salzsäule erstarrt.«
»Das dachte ich auch.« In Gedanken sah May Martin auf dem Eis dahinpreschen, dann stand er mit einem Mal reglos da – den Arm gebeugt, um zum Schlagschuss auszuholen, der Puck so gut wie im Tor der Edmonton Oilers. »Sein Vater hat auch so etwas erwähnt bei meinem Besuch. Er meinte, Martin könnte Gleichgewichtsprobleme haben, gäbe der rechten Seite beim Spielen den Vorzug.«
»Das geht hin und her«, lachte Genny. »Je nachdem, welche gerade verletzt ist. Und Verletzungen haben sie immer.«
»Ich muss mir also keine Sorgen machen.«
»Erst wenn er eines Morgens aufwacht und sich nicht mehr rühren kann. Das ist so ungefähr die einzige ernsthafte Sache, die Martin vom Eis fern halten könnte.«
»Okay.«
May bot Genny Tee an und ging in die Küche. Genny folgte ihr langsam, schaute sich ein paar alte Fotos an. Dann fiel ihr Blick auf die Sammlung mit den Kissen, die Martins Mutter gestickt und auf dem Sofa aufgereiht hatte.
»Agnes musste immer irgendeine Beschäftigung haben. Stricken, Nähen, Kreuzstickerei. Sie hat mir einmal gezeigt, wie man ein Sticktuch mit verschiedenen hübschen Mustern macht.«
»Und? Hast du eins gemacht?«
»Ich habe angefangen.« Genny sah sich um. Ihr Blick wanderte über die Wände, den Kaminsims und die Bücherregale. »Hhmmm. Merkwürdig.«
»Was?«
»In diesem Raum hing früher ein Stickbild. Dunkelblauer Kreuzstich auf Musselin, wenn ich mich recht erinnere. Das Motiv waren zwei kleine Tiere; ich habe dieses Bild geliebt! Es hat mich angespornt, es selbst mit dem Sticken zu versuchen. Agnes hat es gemacht, als Martin geboren wurde.«
»Ich wüsste gerne, wo es ist.«
»Ich auch.« Genny musterte die Wände so eindringlich, als könnte es jeden Moment wieder auftauchen. »Es hing hier seit Ewigkeiten.«
*
Martin lieh sich den Truck von Rays Onkel und fuhr zur nahe gelegenen Baumschule, wo er sämtliche Rosenbüsche aufkaufte. May sollte am Lac Vert ihren
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