Was allein das Herz erkennt (German Edition)
des Mannes vor, hager und jung, noch nicht gezeichnet von seinen Ausschweifungen, den Siegen und Niederlagen in seinem Leben. Er hatte ein sanftes, freundliches Gesicht, und Martin konnte es nun vor sich sehen, wie Serge ihm zurief, schneller zu laufen, sich sein Gespür für das Verhalten des Gegners zu bewahren und mit dem Puck auf den Käfig zu zielen, als gelte es, einen Pfeil abzuschießen.
»Heute Abend werde ich siegen«, flüsterte Martin seinem Vater zu. »Ich werde den Stanley Cup holen.«
Serge Cartier antwortete nicht, aber das spielte keine Rolle; Martins Augen waren geschlossen und er konnte die Stimme seines Vaters auch so hören. Nicht die harsche Stimme eines abgebrühten Glückspielers, in den sich sein Vater verwandelt hatte, sondern eine Stimme voller Hoffnung, Liebe und Schlichtheit, wie sie für Menschen auf dem Lande typisch war. Martin hatte die Stimme seines Vaters einst geliebt, und sie verlieh ihm auch heute noch Stärke.
»Du schaffst es, mein Sohn«, sagte diese Stimme. Es war eine Stimme, die für Kanada, die Berge, das schwarze Eis, den Lac Vert stand. Es war die Stimme seines Vaters, aus den tiefsten Tiefen seiner Erinnerung. Doch das spielte keine Rolle, wie Martin wusste. Heute Abend würde er siegen.
*
»Hast du gewettet?«
»Cartier hat die ersten drei Spiele versaut.«
»Hoffentlich hast du auf Edmonton gesetzt, die werden Boston heute Abend platt machen.«
»Serge, Mann – seit zwei Jahren das Gleiche, und heute Abend wird Martin das letzte Spiel wieder versauen.«
»Spiel sieben, Alles oder Nichts …«
»Lasst den alten Mann in Ruhe«, sagte Tino. »Lasst ihn einfach das Spiel anschauen, okay?«
Serge saß reglos da, unberührt von allem, was ringsum geschah. Der Fernseher war eingeschaltet und lief ohne Störung, das war alles, was ihn interessierte. Er blickte ohne mit der Wimper zu zucken auf den Bildschirm. Lärm, dummes Geschwätz, Zellentüren, die laut ins Schloss fielen, nichts zählte. Nur das Spiel, nur die Kamera, die über die Zuschauer schwenkte.
In der Box der Ehefrauen erkannte er die kleine Genevieve LeMay. Genny Gardner hieß sie nun. Die beiden Kinder an ihrer Seite, Charlotte und Mark, waren fast erwachsen. Serges Blick fiel auf die beiden anderen in der Box, May und Kylie Cartier. Eine tiefe Zuneigung wallte in ihm auf, der Drang, sie vor den Blicken und Kommentaren der anderen Häftlinge zu schützen.
»Heiße Mutter«, sagte Buford.
»Halt die Klappe«, zischte Serge.
»Echt heiß. Kriegt man solche scharfen Weiber, wenn man Eishockey spielt?«
»Ist das deine Enkelin?«
»Quatsch, Serge hat doch keine Enkelin.«
»Trotzdem, hübsch die Mädels.«
Nicht einmal das boshafte Gerede konnte Serges Aufmerksamkeit vom Fernseher ablenken. Es gab ohnehin keinen Grund, darauf einzugehen. Weder, um sich oder Martin zu verteidigen, noch, um jemanden die Geschichte mit Natalie zu erzählen. Das ging hier drinnen niemanden etwas an.
Spiel, Sohn, dachte er . Entspann dich. Atme. Konzentriere dich beim Zielen.
Am Scoreboard wurden Stationen aus Martins Spielerkarriere eingeblendet. Nun flimmerte ein Bild von Martin und Ray über den Fernsehschirm; damals waren sie sieben Jahre alt und hatten ihr erstes Eishockeyturnier in Kanada gewonnen. Serge stand neben Martin, half ihm, die riesige Trophäe hochzuhalten, die zu schwer war für einen kleinen Jungen.
»Spiel, Sohn«, dachte Serge, aber er musste es laut ausgesprochen haben, denn die Hälfte der Häftlinge lachte.
Spiel Sohn, spiel Sohn, äfften sie ihn nach.
Serge scherte sich nicht drum. Er sah über sie hinweg, konzentrierte sich auf den Bildschirm. Die Worte gingen ihm immer wieder durch den Kopf, aber er achtete darauf, dass sie ihm nicht wieder laut herausrutschten. Spiel Sohn, du schaffst das, du hast ihn so gut wie in der Tasche, der Cup gehört dir …
Und dann: Danke, May.
*
Die Spieler nahmen Aufstellung zum Einwurf, die Pfeife schrillte, der Puck fiel, das siebte Spiel hatte begonnen. Das sachkundige Publikum im Bostoner Fleet Center brüllte, stampfte mit den Füßen. Polizeibeamte schirmten die Spielfläche ab, bildeten eine Sicherheitskette mit dem Rücken zum Eis, behielten die tobende Zuschauermenge genau im Blick. Sowohl Martin Cartier als auch Nils Jorgensen hatten Morddrohungen erhalten und man wollte kein Risiko eingehen.
Nach zwei Minuten im ersten Drittel konnte Ray Gardner dank Martins Vorlage ein Tor erzielen. Ray revanchierte sich für die Gefälligkeit und das
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