Was allein das Herz erkennt (German Edition)
er.
»Ich tue dem Kerl doch nichts, werfe doch nur.« Tino senkte den nackten Arm, den unsichtbaren Baseball gegen die Brust gedrückt. »Ich werde Ricky alles beibringen, was ich weiß, damit er einmal ein erstklassiger Pitcher wird.«
»Kannst du nicht, wenn du hier eingebuchtet bist«, erwiderte Serge harsch.
»He, was soll das!« Der junge Mann sah verletzt aus.
»Du machst dir doch nur selber etwas vor, wenn du meinst, du kannst ihm etwas beibringen.«
»Ich kann spielen –«
»Du sitzt im Gefängnis.«
Der junge Mann schüttelte den Kopf, grinste verunsichert. Er wollte gehen, aber Serge packte ihn am Arm.
»Du nimmst Drogen und klaust Autos – das ist es, was du deinem Sohn beibringst.«
»Halt den Mund –«
»Mag sein, dass du ein Naturtalent im Baseball bist, aber daraus gemacht hast du nichts. Sonst wärst du nicht hier drinnen, mit Mördern und Dieben. Mit Leuten wie mir.«
»Ja, mit Leuten wie dir«, sagte der Junge.
»Ich bin keinen Deut besser als der Rest.« Der Himmel über ihren Köpfen war strahlend blau. Serge sah nur ein kleines Geviert, wie ein Fenster zwischen Gefängnismauern und Stacheldraht. »Sonst wäre ich nicht hier gelandet.«
»Ich habe nicht lebenslänglich gekriegt.«
»Aber deinem Sohn könnte es so vorkommen. Wen hat er denn sonst, der ihm da draußen die Bälle zuwirft?«
»Halt den Mund«, sagte der junge Mann und drehte sich um.
Serge machte ein finsteres Gesicht. Er hätte sich gar nicht erst auf die Unterhaltung einlassen sollen. Reden tat hier drinnen nie gut. Man verlor seinen Stolz, wenn die anderen einem die Worte im Mund herumdrehten. Es war besser, stumm an Martins Schmerz zu denken. Worte brachten hässliche Wahrheiten ans Tageslicht, machten aus guten Erinnerungen einen Witz. Serge dachte an Väter und Söhne, Geheimnisse, so tief und aufgewühlt wie das Nordmeer bei hoher See.
»Anstand, Junge«, rief Serge. »Das ist es, was man seinen Kindern beibringen sollte. Vergiss deine schnellen Würfe und das schnelle Geld. Anstand und die Fähigkeit, mit dem zufrieden zu sein, was man hat, das ist wichtig im Leben. Also sieh zu, dass du hier herauskommst.«
Aber Tino war bereits gegangen.
19
A uf der Fahrt zum Lac Vert erkannte May charakteristische Merkmale der Landschaft wieder – Straßenschilder, die alte leer stehende Texaco-Tankstelle, die schmale Hängebrücke, die Hügel am Horizont. Sie legten an den gleichen Orten wie letztes Jahr eine Rast ein, füllten ihre Vorräte an Säften und Wegzehrung auf. An der kanadischen Grenze wurde dieses Mal nicht nur Martin, sondern auch May und Kylie mit großem Hallo begrüßt.
May hielt Martins Hand, während er fuhr; er hatte sich nach dem letzten Spiel innerlich zurückgezogen, war immer noch wortkarg und verschlossen. Auch beim Fahren schien er nicht ganz bei der Sache zu sein. Auf dem Weg zum Highway hatte er eine rote Ampel übersehen. Und er hatte gerade ein Eichhörnchen überfahren, das über die Straße gelaufen war, ohne mit der Wimper zu zucken, als hätte er überhaupt nichts bemerkt.
»Bist du müde?«, fragte May. »Soll ich dich ablösen?«
»Mir geht’s prima.«
»Das Eichhörnchen –«
»Es tauchte plötzlich aus dem Nichts auf.« Martin warf einen Blick in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass Kylie schlief und nichts davon mitbekommen hatte.
»Du hast es überhaupt nicht gesehen.«
Martin schwieg. Er zog seine Hand weg, um mit beiden Händen das Lenkrad zu ergreifen und sich auf die Straße zu konzentrieren.
Bei der Fahrt im letzten Jahr war alles neu für sie gewesen. Sie hatte nicht gewusst, was sie erwartete, wie sich der Sommer entwickeln würde. Nun kannte sie das kleine Blockhaus, konnte sich vorstellen, wie es sich in die Berglandschaft schmiegte, sah den glitzernden See, die sternenklaren Nächte vor sich. Die Gardners würden auf der anderen Seite des Sees auf ihre Ankunft warten. In diesem Sommer hatte May das Gefühl, nach Hause zurückzukehren. Aber statt sich zu freuen, verspürte sie eine leise Unruhe.
Sie verbrachten die ersten Tage mit schlafen, spielen und essen, spannten richtig aus. Martin und Kylie ruderten auf dem See, während May im Pavillon lag, las und schrieb. Sie gingen gemeinsam schwimmen und an den Abenden machten sie es sich in den Liegestühlen bequem und erzählten sich Geschichten über die Sterne.
Nach Mitternacht, am dritten Abend ihres Aufenthalts, kam Kylie schlaftrunken in ihr Zimmer. May und Martin hatten sich gerade
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