Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Martin fragte, ob sie ihn mit Kylie ins Stadion begleiten wolle, schüttelte May den Kopf.
»Ich bringe Kylie gleich zu Dr. Whitpen. Er wird sicher Zeit für uns haben, auch ohne Termin.«
»Soll ich mitkommen?«
»Nein, aber trotzdem vielen Dank.« May erinnerte sich an den letzten Besuch in der Twigg University, als er sie nicht einmal bis nach oben begleiten wollte. Abgesehen davon hatte er heute etwas Wichtiges zu tun.
Jedes Jahr, seit er Profi war, hatte Martin ein Training für den Nachwuchs abgehalten, Kinder und Jugendliche, die sich für Eishockey interessierten. Geld spielte dabei keine Rolle – Martin bezahlte die Miete für das Eisstadion aus eigener Tasche, widmete ihnen seine Zeit und stiftete seine alte Ausrüstung. Er hatte seine Liebe zum Eishockey schon früh entdeckt und wollte Jugendlichen helfen, die nicht so viel Glück im Leben gehabt hatten wie er. Das war seine Art, ein wenig von dem zurückzugeben, was er selbst erhalten hatte.
Im letzten Jahr, in der Aufregung um seine unverhoffte Heirat mit May, hatte er das Nachwuchstraining zum ersten Mal ausfallen lassen. Vielleicht wäre es möglich gewesen, alles unter einen Hut zu bringen – heiraten, Flitterwochen, Umzug von May und Kylie nach Boston, Nachwuchstraining – aber irgendwie hatte er es versäumt, Letzteres in die Tat umzusetzen.
Etliche Briefe waren an ihre Privatadresse nachgeschickt worden, von enttäuschten Jugendlichen, die schon früher an dem Training teilgenommen oder sich auf das erste Mal gefreut hatten, aber keine Gelegenheit bekamen, mit dem berühmten Martin Cartier Schlittschuh zu laufen.
May empfand große Zärtlichkeit für ihn, als sie sah, wie er die Tasche mit seiner Ausrüstung überprüfte. Er opferte seine Zeit, um wildfremde Kinder und Jugendliche zu trainieren, die aus allen Teilen Kanadas angereist waren, nur um ein paar Stunden mit ihm zu verbringen.
Er hatte ein großes Herz, war immer bereit zu helfen. Eine Familie näherte sich ihm, bat um Autogramme. Martin unterschrieb, ließ Platz neben seinem Namen, für Kylie, die ebenfalls ein Autogramm geben sollte. Kichernd kam sie der Bitte nach.
Ihr Leben hatte sich dramatisch verändert, aber der Glamour verblasste angesichts der Tatsache, dass Kylie einen Vater hatte, der sie liebte und Zeit mit ihr verbringen wollte. May umarmte Martin und gab ihm einen Abschiedskuss; sie schloss die Augen und versuchte, der Faust, die sie in ihrer Magengrube verspürte, keine Beachtung zu schenken.
Die Fahrt mit dem Taxi dauerte ungefähr vierzig Minuten und als Kylie den vertrauten Eingang der Twigg University sah, duckte sie sich auf ihrem Platz. May zahlte und betrat mit Kylie an der Hand das Gebäude. Sie gingen die dunkle Eingangshalle entlang und die Steintreppe hinauf. Als sie Dr. Whitpens Büro erreichten, hatte May Herzklopfen.
»Mein Auftragsdienst hat mir ausgerichtet, dass Sie angerufen haben.« Er kam ihnen an der Tür entgegen. Eine Haarsträhne fiel ihm in die Augen. Er trug kakifarbene Hosen, ein blaues Oxford-Hemd und Laufschuhe ohne Socken. Er lächelte nicht, aber er wirkte aufgeregt.
»Kylie, warum spielst du nicht mit dem Puppenhaus?«, sagte May und deutete auf das Spielzimmer.
»Ich möchte bei dir bleiben.«
»Bitte, Liebes.« May blickte ihr in die Augen. »Ich komme gleich. Ich möchte kurz mit dem Doktor alleine sprechen.«
Kylie zuckte die Achseln und gehorchte schließlich.
»Ist etwas passiert?«, fragte der Doktor ruhig. »Seit Ihrem Brief?«
»Ja.« May holte das Tagebuch aus ihrer Handtasche.
Dr. Whitpen schob die Nickelbrille vom Kopf auf die Nase, nahm das Notizbuch mit an seinen Schreibtisch und vertiefte sich darin.
»Sie sagt, Natalie versteckt sich in einem Wandschrank neben dem offenen Kamin. Natalie hinterlässt dort Spuren, Tränen als Beweis.«
»Tränen? Weswegen?« Dr. Whitpen überflog einige Seiten des Tagebuchs.
»Sie weint, weil sie sich ihrem Vater nicht verständlich machen kann. Oder vielmehr, weil Kylie sich ihm nicht verständlich machen kann. Wir scheinen alle zu wissen, was geschehen soll, außer Martin. Er muss einen Weg finden, um sich mit seinem Vater zu versöhnen. Ich habe Serge im Gefängnis besucht.«
Dr. Whitpen senkte das Notizbuch. »Was hat er gesagt? Hat er über Natalie gesprochen?«
»Er macht sich die größten Vorwürfe. Die Schuld lastet schwer auf ihm und er möchte mit Martin ins Reine kommen, bevor es zu spät ist.«
»Das würde mit Kylies Dringlichkeitsgefühl
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